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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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als gestern. Blasser, mit leicht bläulichen Lippen. Es wirkte, als könnte sein Blut, das von einem Herz durch seinen Körper gepumpt wurde, das manchmal ins Stocken geriet, der Erdanziehung nicht länger trotzen.
    Er drehte sich um und blickte aus dem Fenster auf das Dock, das erst kürzlich für die Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft gebaut worden war. Der neue Anlegeplatz war das wahr gewordene Denkmal seiner Zeit als Präsident der Reederei. Der Anleger war gepflegt und leistungsstark – genau wie die Danish Dowager , das neueste Schiff der Flotte. Zu Antoines Zeiten waren die Anleger so unzureichend und die Abgaben so hoch gewesen, dass einige Reedereien andere Routen für ihre Fracht gesucht hatten. Antoine hatte nicht den Weitblick gehabt, zu erkennen, dass ein Hafen, der in Schieflage geraten war, auch für die Reedereien, die dort ansässig waren, eine Schieflage bedeutete.
    Aber was konnte man von einem Mann erwarten, der sich Logik und Anstandsregeln widersetzt hatte, als er seinem Schwiegersohn gedroht hatte? Einem Mann, dessen scheinheiliger Besuch auf der Grand Isle ihm den eigenen Tod gebracht hatte?
    Antoines Tod. Den Tod von Marcelite Cantrelle. Den Tod ihres Sohnes, ihrer Tochter und ihres ungeborenen Kindes.
    Der Blick verschwamm ihm. Luciens Herz zog sich schmerzhaft zusammen und stockte. Als nach Antoines Tod das neue Bürogebäude von Gulf Coast gebaut worden war, hatte Lucien auf extra dicke Wände und kleine Fenster bestanden. Er hatte verhindern wollen, dass der Lärm der Stadt in das Gebäude drang. Doch keine Wand war dick genug, um die Geräusche des Flusses abzuhalten, das Pfeifen derSchlepper, das Glockengeläut.
    Auch jetzt tönte irgendwo in der Ferne eine Glocke. Ein Mann war sich nicht bewusst, wie viele Glocken es gab, bis sie anfingen, seine letzten Tage einzuläuten.
    Unsicher griff er nach der Rückenlehne seines Schreibtischstuhls, zog ihn heran, setzte sich und nahm den Kopf zwischen die Knie. Es gelang ihm, tief Luft zu holen. Und noch einmal. Wie war es möglich, dass man am Anfang eines neuen Jahrhunderts, in einem Zeitalter erstaunlicher Fortschritte, noch immer nichts entdeckt hatte, um ein Herz zu behandeln, das nicht richtig funktionierte?
    Vor fast einem Jahr war er nach Norden gereist, nach New York und Minnesota, und hatte dort vergeblich nach einer Heilungsmethode gesucht. In New Orleans wusste außer seinem Leibarzt niemand vom Ausmaß seiner Krankheit, selbst Aurore hatte keine Ahnung. Zum Glück hatte sie damals keine Fragen zur Reise gestellt, obwohl sie sich über Wochen hingezogen hatte. Vermutlich hatten all die Tanzveranstaltungen und Partys sie so in Atem gehalten, dass sie keine Zeit gehabt hatte, sich Sorgen zu machen. Und genau so war es auch: Als er wieder zu Hause war, reihte sich eine gesellschaftliche Verpflichtung seiner Tochter an die andere – genau wie er es sich erhofft hatte.
    Die Glocke schlug noch immer. Lucien richtete sich auf seinem Stuhl auf und griff in die Schreibtischschublade, um einen Brief hervorzuholen. Vorsichtig drückte er ihn an die Brust und zwang sein Herz, wieder gleichmäßig zu schlagen. Er murmelte eine Passage des Briefes wie ein beruhigendes französisches Gebet, das er auswendig kannte.
    „Sie trifft keine Schuld, mein Sohn. Sie müssen diese Last beiseitelegen und Ihr Leben weiterleben. Es gab nichts, was Sie noch für die armen Seelen hätten tun können, die in Ihrem Boot saßen und damit untergingen. So viele Menschen, Hunderte von Menschen, sind in jener Nacht ums Leben gekommen.Kann ein Vater sich die Schuld geben, weil sein neugeborener Sohn ihm aus den Armen gerissen wurde? Oder kann eine Mutter sich die Schuld geben, weil ihre Töchter sicher in einem Zimmer des Hauses untergebracht waren, das dann doch eingestürzt ist? Das war höhere Gewalt. Das waren Dinge, die man nicht hätte ändern können.“
    Lucien verstummte. Wie schon so oft sagte er sich, dass Pater Grimaud recht hatte. Er hätte die Ereignisse, die sich in der Nacht des Hurrikans zugetragen hatten, nicht ändern können. Er hatte die Wahrheit in Form einer riesigen Wand aus Wasser gesehen. Und hätte er gewusst, dass Antoine in jener Nacht sterben und damit Marcelites Tod und der ihrer Kinder zu einer grausamen Ironie des Schicksals werden würden, hätte das nichts geändert. Nichts.
    „Papa?“
    Lucien setzte sich auf, straffte die Schultern und steckte den Brief von Pater Grimaud in die Schublade zurück. Da sein Herz sich noch

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