Bis zur letzten Luge
geklammert? Hatte er sich nicht eingeredet, dass das Leben hier gut war? Dass seineMutter, wenn sie überlebt hätte, ein gemütliches Heim für sie geschaffen hätte? Dass die Leute einsehen würden, dass er ein guter Junge war, und dass sie lernen würden, nett zu ihm zu sein?
Inzwischen war ihm klar, dass es nur Träume gewesen waren. Niemand, der um die Wurzeln seines Vaters wusste, wäre jemals nett zu ihm gewesen. Er war ein Ausgestoßener. Es war sein Schicksal – wie das aller Menschen mit ähnlichem Hintergrund –, keinen Platz zu haben, an den er gehörte. Entweder lebte er die Lüge und war weiterhin Étienne Terrebonne, oder er verdammte sich selbst zu einer Zukunft voller Ausgrenzung, Unglück und Engstirnigkeit. Und war er irgendwie anders als gestern noch? War er nicht noch immer derselbe Mann – egal, welche Hautfarbe sein Vater gehabt hatte?
An den Bayous lebten farbige Männer. Es waren Männer, die Französisch mit Cajun-Akzent sprachen. Es waren Männer, die in der Gemeinde, in der sie lebten, fischten, Fallen stellten und wie ihre weißen Nachbarn auch zum Tanz, den fais-dodos , gingen. Sie waren akzeptiert – in ihrer Gegend. Solange sie nicht der Meinung waren, etwas Besseres sein zu wollen, als sie sein sollten. Solange sie nicht weißen Frauen hinterherschauten oder sich weißen Männer gegenüber unfreundlich verhielten. Solange sie verstanden, wohin sie gehörten und unter sich blieben.
Aber er würde niemals akzeptiert werden, wenn er die Wahrheit über seine Identität enthüllte. Er hatte als Étienne Terrebonne das Leben eines weißen Mannes geführt, mit weißen Frauen getanzt. Er war von seiner Adoptivmutter unterrichtet worden, die sich mehr für ihn erhofft hatte als ein Leben in den Sümpfen. Er hatte sämtliche Grenzen übertreten. Falls er jemals die Wahrheit sagte, hätte er möglicherweise keine Zukunft mehr.
Doch selbst wenn er schwieg, konnte die Wahrheit ans Licht kommen. Auguste hatte gemeint, dass sie ihm im Gesichtgeschrieben stand. Zelma hatte die dunkle Tönung seiner Haut mit dem Blut der Chénière erklärt; die Mischung der Nationalitäten war hier noch ausgeprägter als an den Bayous. Sicherlich floss italienisches Blut durch Étiennes Adern. Oder portugiesisches. Vielleicht stammte jemand aus seiner Familie wie viele der Menschen, die im Saint Bernard Parish lebten, von den Kanaren. Aber Zelma lebte nicht mehr und konnte keine kritischen Nachfragen mehr abwehren, und Faustin war das alles egal.
Der Horizont veränderte sich nicht, während er weiter wie gebannt daraufstarrte. Es wuchsen nicht plötzlich wie aus dem nichts Bäume, nicht einmal in seiner Vorstellung. Er sah einen Streifen Himmel und die Sonne, die sich langsam darauf vorbereitete, im Meer zu versinken. Schon bald würde die Nacht heraufziehen. Es gab nichts mehr, was er heute noch tun konnte.
Er stand auf, um zu gehen, als etwas seine Aufmerksamkeit fesselte. Wenn er in diese Richtung sah, waren dort Bäume. Zwar nicht so viele wie in seiner Erinnerung, doch es waren Bäume. Und zwischen zwei Gruppen von Bäumen war eine deutliche Lücke zu erkennen. Er runzelte die Stirn und sah noch genauer hin. Beinahe verzweifelt versuchte er sich zu erinnern und sich einen Tag vor zwölf Jahren ins Gedächtnis zu rufen, als er sich vor den geisterhaften Bäumen und den Schleiern des Spanischen Mooses gefürchtet hatte. Wenn das hier die Richtung war, in die er hatte blicken sollen, hatte er Juans Anweisungen zum Teil einfach vergessen. Er spürte die Anspannung, als er eine andere Erinnerung heraufbeschwören wollte, doch ihm fielen nur die Aufforderungen ein, die er selbst in den vergangenen zwölf Jahren jede Nacht wiederholt hatte.
Vielleicht waren auch nicht die Anweisungen oder seine Erinnerungen das Problem. Er drehte sich um und betrachtete erst den Baumstamm, dann den Flecken weicher Erde,wo ein anderer Baum gestanden hatte. Seine Berechnungen hatte er auf die Annahme gegründet, dass der Stamm der Rest des mittleren Baumes war. Aber vielleicht hatten die Zypressenzapfen nicht zu dem dritten Baum gehört. Vielleicht hatte der dritte Baum weiter links und nicht rechts gestanden und der Stumpf war gar nicht der Überrest des mittleren Baumes.
Raphaels Herz raste. Er ging zu der Stelle, wo er den dritten Baum vermutete. Der Boden war sumpfig, der Baum hatte aber auf festem Boden gestanden, als er damals mit Juan hier gewesen war. Doch das Land und das Wasser veränderten sich laufend. Hatte er
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