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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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nicht auch Juans Brunnen mitten im Wasser gefunden? Barfuß watete er durchs Wasser und bewegte sich nur zentimeterweise weiter, wenn er eine Drehung machte. Als er die Suche gerade ergebnislos abbrechen wollte, stolperte er. Mit den Zehen war er gegen irgendetwas gestoßen. Er kniete sich hin und betastete den Boden mit den Händen. Und tatsächlich fand er – unter Wasser und Schlamm kaum zu erkennen – einen Baumstumpf.
    Er richtete sich auf und stellte sich vor, wie der Schatten dieses Baumes verlaufen sein musste. Früher einmal war es eine große, stattliche Zypresse gewesen. Um kurz nach Mittag hätte der Baum einen Schatten geworfen, der bis zum festen Boden gereicht hätte. Er stellte sich den Punkt vor, an dem die Schatten der anderen Bäume sich getroffen hätten. Bedächtig markierte er den Baumstumpf mit einem Zweig. Dann ging er zurück zu der Stelle, an der die Schatten sich gekreuzt hätten. Er wandte sich der Lücke zwischen den Bäumen am Horizont zu und machte dann acht Schritte.
    Er stand fast zwanzig Meter von dem Loch entfernt, das er ausgehoben hatte. Und er war direkt am Rand des Wassers. Als er sieben Jahre alt gewesen war, war das Wasser viel weiter entfernt gewesen. Aber so vieles hatte sich verändert. So vieles.
    Er kennzeichnete den Punkt und ging dann los, um seineSchaufel zu holen. Es würde noch genug Zeit bleiben, um ein Loch zu graben, bevor ihn die Dunkelheit zwang, zu seinem Lager zurückzukehren. Während die Sonne unterging, schaufelte er ein Loch, das ungefähr dreißig Zentimeter tief und dreißig Zentimeter breit war. Er nahm an, dass er noch eine Stunde hatte, bis es dunkel war. Fieberhaft grub er weiter. Sollte er in die Breite graben oder in die Tiefe? Morgen hatte er mehr Zeit, doch im Moment musste er sich entscheiden.
    Er entschied sich dazu, in die Breite zu graben, da er vermutete, dass Ebbe und Flut im Laufe der Jahre sicherlich schon etwas von der Erde auf der Erhöhung abgetragen hatten. Was auch immer Juan versteckt hatte, lag inzwischen bestimmt nicht mehr so tief im Boden. Er tauchte die Schaufel ein, hob sie an und warf die Erde hinter sich. Der Rhythmus, in dem er grub, beruhigte ihn nicht länger. Er war müde, entmutigt, und ihm tat alles weh. Er wollte nur noch etwas essen, schlafen, vergessen. Dennoch trieb er die Schaufel immer und immer wieder in das größer werdende Loch.
    Plötzlich stieß die Schaufel auf etwas Festes.
    Er war so erschöpft, dass er einen Moment lang glaubte, eine Wurzel getroffen zu haben, ein Stück verschlammtes Treibholz, ein Stück von einem Boot oder einem Logger, die irgendwann einmal jemandem gehört hatten und in einem Sturm zerstört worden waren. Wieder stach er mit der Schaufel in den Boden, und wieder kam er nicht weiter, weil er auf etwas Hartes stieß.
    Dieses Mal ging er in die Hocke und wühlte mit den Fingern weiter. Er folgte den Konturen des Gegenstandes. Es war etwas Flaches, Rechteckiges. Er grub, bis seine Fingerkuppen wund waren. Dann stand er auf, zwängte die Schaufel in den entstandenen Spalt in dem Loch und hebelte den Gegenstand hoch.
    Es war eine Metallbox, die ungefähr dreißig Zentimeter lang, breit und hoch war. Mit zitternden Händen hob er sieaus dem Loch. Juan hatte tatsächlich etwas versteckt, und er war nicht zurückgekommen, um es sich zu holen; das bedeutete, er hatte nicht überlebt. Raphael verspürte Mitgefühl für den alten Mann, seinen Freund, für den Mann, der seinen Vater gekannt und nur Gutes über ihn erzählt hatte. Juan war tatsächlich für immer davongesegelt.
    Mit einer Ecke seines Hemdes wischte er über die Kiste. Ein verrostetes Schloss, mit dem die Box gesichert war, baumelte an einer Seite. Es war allerdings ein Leichtes für Raphael, das Schloss mithilfe seiner Schaufel und eines harten Stückchens Treibholz zu öffnen.
    Vorsichtig setzte er sich mit der Kiste auf dem Schoß auf den Boden. Es kam nicht oft vor, dass ein Mann Träume in seinen Händen hielt. Möglicherweise machte er die Kiste auf und fand darin nichts als Briefe oder Fotos – die Träume eines anderen Mannes.
    Oder er öffnete sie und fand seine eigenen.
    Die Sonne war fast untergegangen, als er den verrosteten Deckel der Box endlich aufhebelte.
    Und die flammend rote Farbe des Sonnenuntergangs ließ Träume erstrahlen, die für einen Mann im wachen Zustand einfach zu fantastisch waren.

13. KAPITEL
    D er Spiegel neben der Bürotür bestätigte Luciens schlimmste Befürchtungen: Er war noch blasser

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