Bis zur letzten Luge
umhüllen und sicher halten. Sie war nicht wie Claire, sie war anders. Ein Kreis würde sich schließen. Und weder Mensch noch Natur würden diesen Kreis unterbrechen, bis es für das Kind an der Zeit war, geboren zu werden.
„Étienne.“ Der Name gab ihr Mut. Sie spürte ihn auf ihren Lippen und in ihrem Herzen. Er hatte die Liebe auch nicht gekannt. Zwar hatte er nur wenig darüber gesprochen, aber sie hatte sich den Rest denken können. Wie sie war er allein aufgewachsen. Auch in seinem Leben hatte es keine Kinder gegeben, die er mit Zuneigung hatte überschütten können. Doch gemeinsam würden sie lernen, wie es ging.
Sie zwang sich dazu, über die Reaktion ihres Vaters auf die Neuigkeiten nachzudenken. Sie sank auf das Bett und schloss die Augen. Es war kein mangelnder Mut, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Sie malte sich einfach lebhaft aus, was passieren würde, sodass sie, wenn es eintraf, stark genug war, um sich dem zu stellen.
Es war später Nachmittag, als sie schließlich vom Bett aufstand und zum Kleiderschrank ging, um ein anderes Kleid auszuwählen. Ein säuerlicher Geruch stieg aus der Schüssel auf, in die sie sich übergeben hatte. Aber die Beine, auf denensie stand, gaben nicht unter ihr nach, und die Hände, mit denen sie die Nachmittagskleider durchsuchte, waren ruhig.
Étienne fürchtete sich fast davor, dass alles, wofür er gearbeitet hatte, in greifbarer Nähe war. Jahrelang hatte er am Bayou Lafourche auf Rache gesonnen. Doch selbst nachdem er nach New Orleans gekommen und der Moment näher gerückt war, hatte er nicht gewusst, wie er Lucien zerstören sollte. Er hatte angenommen, dass es Jahre dauern würde, um einen Weg zu finden; zuerst hätte er Luciens Vertrauen und Wohlwollen gewinnen und sich dann langsam und vorsichtig in eine wichtige Position hocharbeiten müssen, wo sich ihm ein geeigneter Racheplan geboten hätte.
Stattdessen hatte er Luciens Aufmerksamkeit sofort auf sich gezogen. Ohne es zu ahnen, war er in einer entscheidenden Phase in die Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft gekommen. Der Ausbau des Unternehmens hatte aus Lucien einen alten Mann gemacht, und er hatte die Notwendigkeit erkannt, frisches Blut in die Firma zu holen.
Étiennes Aufstieg war einer Verknüpfung von Talent und Zufällen zu verdanken gewesen. Er vereinte Jugend, Energie und Intelligenz in sich. Seine Herkunft und seine Ausbildung waren gut genug erschienen, um keine Fragen bezüglich seines Charakters aufzuwerfen, und schlicht genug, um kein Misstrauen im Hinblick auf seine Beweggründe oder seine Ziele zu erregen.
Jetzt stand Étienne kurz davor, endlich Rache zu nehmen. Es waren keine Jahre vergangen; Ideen und Methoden waren gegen bessere ausgetauscht worden. Das Mittel für Luciens Zerstörung hatte so offen auf der Hand gelegen, dass Étienne zuerst gefürchtet hatte, es könnte zu einfach sein. Er war es wieder und wieder im Kopf durchgegangen, hatte es einstudiert, hatte über die Auswirkungen nachgedacht – dennoch war es ganz leicht erschienen, Rache zu üben. Vor langer Zeithatte er die Gründe zusammengefügt, die Lucien damals dazu bewogen hatten, das Boot abzuschneiden. Die Einzelheiten lagen im Dunkeln, und daran würde sich vermutlich nichts ändern, aber Étienne war sich sicher, dass Lucien seine Mutter und seine Schwester umgebracht hatte, weil sie für ihn zu einer Gefahr geworden waren. Ob sie nun Luciens Ruf oder sein Vermögen bedroht hatten, war zweitrangig. Étienne befand sich in der Situation, beides zerstören zu können.
Eines Abends saß er in seiner kleinen Wohnung und betrachtete das Foto, das Aurore ihm gegeben hatte. Sie trug das weiße Kleid, in dem sie auch ihr Debüt gegeben hatte. Reihenförmig angebrachte Rüschen betonten ihr Dekolleté. Ihr Haar war aus der Stirn gekämmt und hochgesteckt. Eine lange Locke lag auf ihrer nackten Schulter. Ihre Augen funkelten, als würde sie an etwas sehr Verlockendes denken.
Aurores Gesicht wirkte nicht außergewöhnlich, wenn es auf Fotopapier gebannt war. Sie war hübscher, wenn sie sich bewegte, redete, lachte. Liebe und die Sicherheit, die mit diesem Gefühl einherging, hatten sie verändert. Jetzt glühte ihre Haut. Ihre Züge waren lebendiger; sie lächelte viel öfter. Im Bett, wo es ihr unmöglich war, ihre Gefühle zu verbergen, war sie zu einer Leidenschaft fähig, die man sich bei der Frau auf der Fotografie nicht vorstellen konnte.
Étienne spürte den kühlen Rahmen aus Metall, das Glas, das
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