Bisduvergisst
Welt still. Kaum einer sagt etwas, stumm sehen wir uns um. Ich liege immer noch auf dem Boden. Mir wird kalt dabei.
Lisa, will ich zu dir sagen, dein Haar ist ganz weiß. Der Raum beginnt sich um mich zu drehen. Dann schreist du, ich sehe deinen offenen Mund, deine weißen Zähne, deine angsterfüllten Augen. Wenn nur meine Ohren nicht so pfeifen würden. Du beugst dich über mich, ein Soldat kommt dazu, einer mit einer grässlich fleischigen Narbe mitten im Gesicht.
Ich lese von deinen Lippen. Du sagst, ich würde bluten. Und augenblicklich weiß ich, warum alles so warm und nass um mich ist. Der Soldat reißt einen Streifen von seinem Hemd. Er presst den Stoff auf meinen Arm. Du siehst ihm dabei zu, schaust in mein Gesicht, deine Hand nähert sich meiner Wange. Nein, Lisa, schlag mich nicht, das hier ist nicht meine Schuld. Schlag mich nicht.
Aber dein Hand ist ganz warm und tätschelt meine Wange, streichelt mein Gesicht. Das hast du noch nie gemacht, Lisa, sonst muss doch ich dich trösten. Ich weine ja nicht einmal. Ich höre nur nichts. Meine Ohren pfeifen.
Ach Lisa, ach Lisa.
30
Mit einem gewissen Erstaunen beobachtete Nero Keller, wie sich sein Verhältnis zu Mordermittlungen in seiner langen Karriere bei der Polizei allmählich wandelte. Als er bei der Mordkommission angefangen hatte, war in ihm der Zorn über die Tat oft ins Unermessliche angewachsen. Er hatte seine Ermittlungsarbeit, so rational und bürokratisch er sie auch geführt hatte, als Feldzug gegen das Schlechte in der Welt gesehen. Im Laufe der Jahre war dieser starke Impuls gewichen und hatte einer gewissen Resignation Platz gemacht. Er hatte sich eingeredet, sich für das Böse im Menschen zu interessieren. Seine Arbeit hatte den Charakter einer Forschungsreise besessen, die ihn mitten hinein ins dunkle Herz des Verbrechens führte. Schließlich hatte er diese stets neue Konfrontation mit dem Tod nicht mehr ausgehalten und sich beim LKA beworben – auf einen Schreibtischjob vor einem Bildschirm, wie er hoffte. »War eine Täuschung«, brummte er, als er von der Theatinerstraße kommend in die Fünf Höfe einbog. Er war hungrig wie ein Wolf und feierte Überstunden ab. Das hätte er früher nie gemacht. Selbst vor einem halben Jahr noch nicht. Mit einem Buch Short Stories in der Tasche sich am helllichten Tag in ein Bistro zu setzen und zu lesen – das wäre ihm geradezu infam vorgekommen. Dem Herrgott den Tag stehlen, so nannte man das bei ihm zu Hause. Aber nun hatte er sich einen Band mit Kurzgeschichten von Arthur Miller gekauft und steuerte auf das ›dean&david‹ zu, wo man bei gutem Wetter, wenn alle draußen sitzen wollten, auf alle Fälle einen Platz bekam. Er bestellte ein vegetarisches Curry und einen Saft. Trug seine Sachen in den Lichthof hinaus, legte das Buch neben sich auf den Tisch und beobachtete die Passanten, die durch die Salvatorpassage eilten, beladen mit Tüten, Sorgen, Ideen, Ängsten, Gleichgültigkeit. Er war geradezu euphorisch, wenn er es schaffte, ein paar Minuten nicht an Kea zu denken.
Sein Handy klingelte, ehe er den ersten Bissen Curry angerührt hatte.
»Yoo Lim, Ihr Quälgeist aus Landshut.«
Nero legte die Gabel weg. »Haben Sie was?«
»Ihr Kollege aus München hat mich gerade angerufen. Ob Sie es glauben oder nicht: Dasselbe Programm, das wir auf Julikas CD gefunden haben, ist bereits im Netz unterwegs. Die Raiffeisenbank in Passau hat Anzeige erstattet. Heute Morgen. Ein paar von ihren Kunden wären ziemlich fies um ihren kompletten Kontoinhalt inklusive Dispo geprellt worden. Wenn nicht ein Sicherheitsprogramm im Hintergrund den Mitarbeitern melden würde, dass ein Kunde eine für seine üblichen Geschäftsgewohnheiten ungewöhnlich hohe Summe abheben will, hätte irgendwer die Kohle komplett abgeräumt.«
Was will sie von mir?, dachte Nero. Was hat das mit mir zu tun? Ich möchte eigentlich nur friedlich hier sitzen und mein Curry essen, kann das jemand nachvollziehen?
»Ich melde mich«, versprach er. Legte auf und betrachtete überfordert die Schüssel mit Zuckerschoten und Erdnüssen. Überlasse den Herzinfarkt den anderen Typen, hörte er Kea sagen. Er müsste sie anrufen. Wurde schon genauso stur wie sein Vater.
Dasselbe Programm war im Netz aktiv … Nero ahnte, worauf das hinauslief: Sein erster Gedanke, die Verantwortlichen in der organisierten Kriminalität zu suchen, war exakt der richtige. Doch was das mit dem Mord an Julika zu tun hatte, wollte ihm nicht in den Kopf. Im
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