Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
Angst. Es ist wirklich nicht normal. Nicht so, als wäre sie … verlassen worden, sondern als wäre jemand gestorben.« Seine Stimme versagte.
Es war tatsächlich so, als wäre jemand gestorben – ich . Denn ich hatte nicht nur die einzig wahre Liebe verloren – falls das noch nicht ausreichte, um jemanden umzubringen. Ich hatte auch eine ganze Zukunft verloren, eine Familie – das ganze Leben, für das ich mich entschieden hatte …
Als Charlie weitersprach, klang er verzweifelt. »Ich weiß nicht, ob sie je darüber hinwegkommt – ich bin mir nicht sicher, ob es in ihrer Natur liegt, sich von so einer Sache zu erholen. Sie war immer so ein beständiges Mädchen. Sie lässt die Dinge nicht so leicht hinter sich, sie ändert ihre Meinung nicht.«
»Ja, sie ist einmalig«, sagte Alice trocken.
»Und, Alice …« Charlie zögerte. »Du weißt ja, wie sehr ich dich mag, und ich merke, dass sie sich freut, dich zu sehen, aber … ich mache mir ein bisschen Sorgen, was dein Besuch bei ihr anrichtet.«
»Ich auch, Charlie, ich auch. Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht gekommen. Es tut mir leid.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wer weiß? Vielleicht tut es ihr ja sogar gut.«
»Hoffentlich behältst du Recht.«
Eine lange Zeit schwiegen sie, Gabeln kratzten über die Teller und Charlie kaute. Ich fragte mich, wo Alice wohl das Essen versteckte.
»Alice, ich muss dich was fragen«, sagte Charlie unbeholfen.
Alice blieb ruhig. »Frag nur.«
»Er kommt doch nicht auch vorbei, oder?« Ich hörte die unterdrückte Wut in Charlies Stimme.
Alice antwortete in leisem, beschwichtigendem Ton. »Er weiß nicht einmal, dass ich hier bin. Als ich zuletzt mit ihm sprach, war er in Südamerika.«
Ich erstarrte, als ich das hörte, und lauschte angestrengt.
»Immerhin«, schnaubte Charlie. »Na, ich hoffe, er amüsiert sich.«
Jetzt klang Alice’ Stimme zum ersten Mal etwas härter. »Du solltest nicht vorschnell urteilen, Charlie.« Ich wusste, wie es in ihren Augen blitzte, wenn sie in diesem Ton sprach.
Ein Stuhl wurde zurückgeschoben und schabte laut über den Fußboden. Ich war mir sicher, dass Charlie aufgestanden war – es war undenkbar, dass Alice so einen Krach machen würde. Der Wasserhahn wurde aufgedreht, Wasser spritzte in eine Schüssel.
Es hörte sich nicht so an, als ob sie noch mehr über Edward sagen würden, deshalb entschloss ich mich, allmählich wach zu werden.
Ich drehte mich um und ließ die Sprungfedern extra quietschten. Dann gähnte ich laut.
In der Küche war es ganz still.
Ich reckte mich und stöhnte.
»Alice?«, sagte ich unschuldig. Meine raue Stimme passte gut zu der Farce.
»Ich bin in der Küche, Bella«, rief Alice. Sie schien keinen Verdacht zu hegen, dass ich gelauscht haben könnte. Allerdings war sie gut darin, so etwas zu verbergen.
Kurz darauf musste Charlie los – er wollte Sue Clearwater bei den Vorbereitungen für die Beerdigung helfen. Ohne Alice wäre es ein langer Tag geworden. Sie erwähnte ihre Abreise nicht, und ich fragte nicht danach. Ich wusste, dass es unvermeidlich war, aber vorerst verdrängte ich es.
Stattdessen sprachen wir über ihre Familie – über alle bis auf einen.
Carlisle arbeitete nachts in Ithaca und lehrte an der Universität von Cornell. Esme restaurierte ein denkmalgeschütztes Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert, das im Wald nördlich der Stadt lag. Emmett und Rosalie waren für ein paar Monate zu weiteren Flitterwochen nach Europa aufgebrochen, aber inzwischen waren sie wieder zurück. Jasper war auch an der Universität von Cornell, er studierte jetzt Philosophie. Und Alice hatte in eigener Sache geforscht und war den Informationen nachgegangen, die ich im letzten Frühjahr zufällig herausbekommen hatte. Sie hatte die Irrenanstalt ausfindig gemacht, wo sie die letzten Jahre ihres menschlichen Lebens verbracht hatte. Des Lebens, an das sie keinerlei Erinnerung hatte.
»Ich hieß Mary Alice Brandon«, erzählte sie ruhig. »Ich hatte eine kleine Schwester namens Cynthia. Ihre Tochter – meine Nichte – lebt heute noch in Biloxi.«
»Hast du herausgefunden, weshalb sie dich dort … eingeliefert haben?« Was trieb Eltern zu so einer extremen Entscheidung? Selbst wenn die Tochter Zukunftsvisionen hatte …
Sie schüttelte nur den Kopf, der Blick ihrer Topasaugen war nachdenklich. »Ich habe nicht viel über sie herausbekommen. Ich habe mir all die alten Zeitungen auf Mikrofiche angesehen. Meine Familie wurde
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