Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
an Edwards Stimme, wie ich sie heute Nachmittag im Kopf gehabt hatte – und ließ sie immer wieder ablaufen, bis ich einschlief, während mir die Tränen lautlos über das leere Gesicht strömten.
In dieser Nacht hatte ich einen neuen Traum. Es regnete und Jacob ging geräuschlos neben mir her, obwohl der Boden unter meinen Füßen knirschte wie trockener Kies. Aber es war nicht mein Jacob, es war der neue, bittere, anmutige Jacob. Sein weicher, geschmeidiger Gang erinnerte mich an jemand anderen, und während ich ihn ansah, verwandelte er sich. Seine rostbraune Haut verblasste, sein Gesicht wurde kalkweiß. Seine Augen wurden erst golden, dann purpurrot, dann wieder golden. Sein kurzgeschnittenes Haar bog sich im Wind und färbte sich dort, wo der Wind es berührte, bronzefarben. Und sein Gesicht wurde so schön, dass es mir das Herz brach. Ich wollte ihn berühren, doch er wich einen Schritt zurück und hob die Hände wie einen Schild. Und dann verschwand Edward.
Als ich im Dunkeln erwachte, war ich mir nicht sicher, ob ich gerade erst angefangen hatte zu weinen oder ob ich schon im Schlaf geweint hatte. Ich starrte an die dunkle Zimmerdecke. Ich spürte, dass es mitten in der Nacht war – ich war noch halb im Schlaf. Ich machte die müden Augen zu und betete für einen traumlosen Schlaf.
In dem Moment hörte ich das Geräusch, das mich wahrscheinlich geweckt hatte. Etwas Scharfes kratzte an meinem Fenster entlang, es quietschte wie Fingernägel auf einer Glasscheibe.
E in nächtlicher Besucher
Ich riss vor Schreck die Augen weit auf, obwohl ich so erschöpft und durcheinander war, dass ich kaum wusste, ob ich wach war oder schlief.
Jetzt war da wieder dasselbe hohe Quietschen, das Kratzen am Fenster.
Ich taumelte aus dem Bett und zum Fenster, ich war noch ganz benommen vor Müdigkeit. Ich blinzelte die letzten Tränen weg.
Draußen schwankte eine riesige dunkle Gestalt hin und her. Sie kam auf mich zu, als wollte sie sich durch die Scheibe stürzen. Entsetzt stolperte ich zurück, ein Schrei steckte mir in der Kehle.
Victoria.
Sie war gekommen.
Ich war so gut wie tot.
Bitte nicht Charlie!
Ich schluckte den Schrei herunter. Ich musste mich ruhig verhalten. Irgendwie. Charlie durfte nicht zu mir ins Zimmer kommen …
Und dann rief die dunkle Gestalt mit einer vertrauten, heiseren Stimme:
»Bella!« Und dann: »Aua! Verdammt, mach mal das Fenster auf! Au!«
Es dauerte zwei Sekunden, bis ich die Angst abgeschüttelt hatte und mich bewegen konnte. Dann lief ich schnell zum Fenster und öffnete es. Hinter den Wolken leuchtete ein schwaches Licht, es reichte aus, um die Gestalt zu erkennen.
»Was machst du denn da?«, stieß ich hervor.
Jacob hing unsicher im Wipfel der Fichte, die in unserem kleinen Vorgarten stand. Unter Jacobs Gewicht hatte sich die Fichte zum Haus hin geneigt, und jetzt schaukelte er, während seine Beine mehr als fünf Meter über dem Boden baumelten, keinen Meter von mir entfernt hin und her. Wieder kratzten die dünnen Zweige in der Spitze des Baums quietschend an der Hauswand.
»Ich versuche« – er keuchte und verlagerte das Gewicht, als der Baumwipfel ihn herumwirbelte – »mein Versprechen zu halten!«
Ich blinzelte mit nassen, verweinten Augen. Ich war sicher, dass das nur ein Traum war.
»Wann hast du mir versprochen, dich von unserem Baum in den Tod zu stürzen?«
Er schnaubte verächtlich, offenbar fand er das nicht sehr komisch. Dann schwang er die Beine hin und her, um das Gleichgewicht wiederzufinden. »Mach mal Platz«, befahl er.
»Was?«
Wieder schaukelte er mit den Beinen, diesmal, um mehr Schwung zu bekommen. Jetzt wurde mir klar, was er vorhatte.
»Nein, Jake!«
Doch ich duckte mich zur Seite, denn es war schon zu spät. Mit einem Ächzen schwang er sich durchs offene Fenster.
Mir stieg schon wieder ein Schrei in der Kehle auf, denn ich rechnete damit, dass er zu Tode stürzen oder sich an der Hauswand zumindest schwer verletzen würde. Zu meinem Schreck jedoch schwang er sich behände in mein Zimmer und landete mit einem dumpfen Aufprall auf den Fußballen.
Automatisch schauten wir beide mit angehaltenem Atem zur Tür und warteten, ob Charlie von dem Krach aufgewacht war. Einen kurzen Moment war es still, dann hörten wir das gedämpfte Geräusch von Charlies Schnarchen.
Ein breites Grinsen erschien auf Jacobs Gesicht, er wirkte höchst zufrieden mit sich. Es war nicht das Grinsen, das ich kannte und liebte – das hier war neu, es war ein
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