Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
seine Zähne würden spitz und scharf sein …
Doch ich war zu schnell. Erst musste etwas anderes passieren.
Jacob ließ meine Hand los und jaulte auf. Zuckend und bebend sank er vor meinen Füßen zusammen.
»Jacob!«, schrie ich, doch er war verschwunden.
An seiner Stelle stand ein riesiger, rostbrauner Wolf mit dunklen, klugen Augen.
Der Traum kam vom Weg ab, wie ein Zug, der aus den Gleisen sprang.
Es war nicht derselbe Wolf, von dem ich in einem anderen Leben geträumt hatte. Es war der große rostbraune Wolf, dem ich vor einer Woche gegenübergestanden hatte. Dieser Wolf war gigantisch, monströs, größer als ein Bär.
Der Wolf starrte mich an und versuchte mir mit seinem klugen Blick etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Mit dem vertrauten Blick der schwarzbraunen Augen von Jacob Black.
Mit einem schrillen Schrei wachte ich auf.
Diesmal war ich beinahe darauf gefasst, dass Charlie hereinkommen würde. Es war ein anderer Schrei als sonst. Ich vergrub das Gesicht im Kopfkissen und versuchte mein hysterisches Kreischen zu ersticken. Ich presste mir das Kissen fest vor den Mund und überlegte, ob ich die Entdeckung, die ich gerade gemacht hatte, nicht wieder begraben könnte.
Aber Charlie kam nicht herein, und schließlich schaffte ich es, das merkwürdige Kreischen, das aus meiner Kehle kam, zu unterdrücken.
Jetzt fiel mir alles wieder ein – jedes Wort, das Jacob damals am Strand zu mir gesagt hatte, auch das, was er erzählt hatte, bevor er über die Vampire, die kalten Wesen , sprach.
»Kennst du dich ein bisschen aus mit unseren alten Geschichten, über unsere Herkunft und so – also die der Quileute?«, begann er.
»Nicht so richtig«, gestand ich.
»Also, da gibt’s jede Menge Legenden, manche stammen angeblich noch aus der Zeit der Sintflut. Es heißt, die alten Quileute hätten ihre Kanus auf den Berg gebracht und an den Gipfeln der höchsten Bäume befestigt und auf diese Weise überlebt wie Noah auf seiner Arche.« Er lächelte, um mir zu zeigen, wie wenig er auf diese Geschichten gab. »Einer anderen Legende zufolge stammen wir von den Wölfen ab und sind noch immer mit ihnen verbrüdert. Die Stammesgesetze verbieten es, sie zu töten.«
Er senkte seine Stimme. »Und dann gibt es die Geschichten über die kalten Wesen.«
»Die kalten Wesen?«, fragte ich mit nunmehr echter Neugierde.
»Genau. Die meisten Geschichten über die kalten Wesen stammen aus der Zeit der Wolfslegenden, aber es gibt auch einige, die sind noch gar nicht so alt. Einer Legende zufolge kannte mein Urgroßvater ein paar von ihnen. Er war es, der mit ihnen das Abkommen traf, nach dem sie sich von unserem Land fernzuhalten haben.« Er verdrehte seine Augen.
»Dein Urgroßvater?«, fragte ich, um ihm mehr zu entlocken.
»Er war Stammesältester, genau wie mein Vater. Die kalten Wesen sind die natürlichen Feinde des Wolfes, verstehst du – also, eigentlich nicht des Wolfes an sich, sondern der Wölfe, die sich in Menschen verwandeln, so wie meine Vorfahren. Werwölfe, wie ihr sie nennt.«
»Werwölfe haben Feinde?«
»Nur diesen einen.«
Etwas saß mir in der Kehle und würgte mich. Ich versuchte, es herunterzuschlucken, aber es steckte fest und bewegte sich nicht. Ich versuchte, es auszuspucken.
»Werwolf«, stieß ich hervor.
Ja, das war das Wort, das mich würgte.
Die ganze Welt geriet ins Taumeln und neigte sich im falschen Winkel.
Was war hier los? Was war das für eine Welt, in der in winzigen, unbedeutenden Städten uralte Legenden wieder lebendig wurden? Bedeutete das etwa, dass jedes noch so abwegige Märchen auf einer unabänderlichen Wahrheit beruhte? Gab es überhaupt irgendetwas Normales, oder bestand alles nur aus Zauberei und Geistergeschichten?
Ich hielt meinen Kopf fest, als wollte ich verhindern, dass er zersprang.
Eine leise, nüchterne Stimme in meinem Hinterkopf fragte mich, was daran denn so unglaublich sei. Hatte ich nicht schon vor langer Zeit die Existenz von Vampiren akzeptiert – und zwar ohne in Hysterie zu verfallen?
Genau, hätte ich der Stimme gern entgegengeschrien. War eine Legende pro Person nicht genug, genug für ein ganzes Leben?
Außerdem hatte ich nie daran gezweifelt, dass Edward Cullen nicht mit normalen Maßstäben zu messen war. Als ich herausfand, was er war, hatte mich das nicht so wahnsinnig überrascht – weil schon vorher klar gewesen war, dass er etwas anderes als ein Mensch sein musste.
Aber Jacob? Jacob, der einfach nur Jacob war und sonst nichts?
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