Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
Rollstuhl. Als er mich sah, weiteten sich seine Augen kurz, dann wurde seine Miene wieder gleichmütig.
»Guten Morgen, Bella. Was treibt dich so früh her?«
»Hallo, Billy. Ich muss mit Jake reden. Wo ist er?«
»Ähm … ich weiß nicht genau«, log er mit unbewegter Miene.
»Weißt du, was Charlie heute Morgen macht?«, fragte ich. Ich konnte diese ständigen Ausreden nicht mehr hören.
»Müsste ich das wissen?«
»Er und die Hälfte aller Männer aus der Stadt sind im Wald und machen Jagd auf riesige Wölfe.«
In Billys Gesicht zuckte es, dann guckte er mich wieder unbewegt an.
»Darüber wollte ich mit Jake reden, falls du nichts dagegen hast«, fuhr ich fort.
Billy schürzte die Lippen. »Ich wette, der schläft noch«, sagte er schließlich mit einer Kopfbewegung in Richtung Flur. »Er geht in letzter Zeit immer lange aus. Der Junge muss sich mal ausruhen – ich glaub, du lässt ihn besser schlafen.«
»Überlass das mal mir«, murmelte ich leise, als ich in den Flur ging. Billy seufzte.
Der Flur war nur einen Meter lang, und die einzige Tür führte in Jacobs winzige Kammer. Ohne anzuklopfen, stieß ich die Tür auf, sie knallte gegen die Wand.
Jacob, der immer noch dieselben schwarzen Shorts trug wie bei seinem nächtlichen Besuch bei mir, lag auf dem Doppelbett, das bis auf wenige Zentimeter an den Seiten den ganzen Raum einnahm. Obwohl er diagonal lag, war es nicht lang genug, seine Füße ragten am einen Ende über den Rand und sein Kopf am anderen. Er schlief tief und fest und schnarchte leise. Bei dem lauten Knall der Tür hatte er noch nicht mal gezuckt.
Im Schlaf war sein Gesicht friedlich und weich, die Wut der letzten Zeit war wie weggewischt. Unter den Augen hatte er Ringe, die mir noch nie aufgefallen waren. Trotz seiner absurden Größe sah er jetzt sehr jung aus und sehr müde. Plötzlich tat er mir leid.
Ich ging wieder aus dem Zimmer und zog die Tür leise hinter mir zu.
Billy starrte mich neugierig und misstrauisch an, als ich langsam wieder ins Wohnzimmer kam.
»Ich glaub, ich lass ihn lieber schlafen.«
Billy nickte, und wir schauten uns einen Augenblick an. Ich hätte ihn liebend gern gefragt, was für eine Rolle er bei der ganzen Geschichte spielte. Wie fand er das, was aus seinem Sohn geworden war? Aber er hatte ja von Anfang an auf Sams Seite gestanden, also nahm er an den Morden wohl keinen großen Anstoß. Ich hatte keine Ahnung, wie er das vor sich selbst rechtfertigte.
In seinen dunklen Augen sah ich, dass auch er viele Fragen an mich hatte, doch auch er sprach sie nicht aus.
»Also«, sagte ich und brach das laute Schweigen, »ich geh für eine Weile runter zum Strand. Wenn Jacob aufwacht, sag ihm, dass ich da auf ihn warte, ja?«
»Ja, klar«, sagte Billy.
Ich wusste nicht, ob er das wirklich tun würde. Aber wenn nicht, hatte ich es immerhin versucht.
Ich fuhr zum First Beach und parkte auf dem leeren unbefestigten Parkplatz. Kein anderer Wagen stand dort. Es war immer noch dunkel – die trübe Zeit vor dem Sonnenaufgang an einem bewölkten Tag –, und als ich die Scheinwerfer ausschaltete, konnte man kaum etwas sehen. Ich musste warten, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erst dann fand ich den Weg zum Strand. Es war kälter hier, der Wind pfiff vom schwarzen Wasser, und ich vergrub die Hände tief in den Taschen meiner Winterjacke. Wenigstens regnete es nicht mehr.
Ich ging am Uferdamm entlang hinunter zum Strand. Weder St. James noch die anderen Inseln waren zu sehen, nur die verschwommene Küstenlinie. Vorsichtig ging ich über die Steine und achtete darauf, nicht über das Treibholz zu stolpern.
Ich fand, was ich suchte, bevor ich überhaupt wusste, dass ich danach gesucht hatte. Es erhob sich aus der Dämmerung, als ich nur noch ein paar Meter entfernt war: ein langer, kalkweißer Treibholzbaum, der weit auf den Felsen gestrandet war. Wie die hageren Beine einer riesenhaften, bleichen Spinne streckten sich die Wurzeln zum Wasser hin. Ich war mir nicht sicher, ob es derselbe Baum war, auf dem Jacob und ich gesessen hatten, als wir uns zum ersten Mal unterhielten – ein Gespräch, das den Ausgangspunkt für so viele verwickelte Fäden meines Lebens darstellte –, er befand sich jedenfalls ungefähr an derselben Stelle. Ich setzte mich dorthin, wo ich damals gesessen hatte, und starrte hinaus auf das unsichtbare Meer.
Als ich Jacob gesehen hatte, wie er schlief, so unschuldig und verletzlich, waren meine Abscheu und meine Wut
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