Biss der Wölfin: Roman
stellte seinen Teller zwischen uns.
»Clayton teilt Nahrung?«, sagte Joey mit einem etwas gezwungenen Lächeln. »Das muss Liebe sein.«
»Nein, er versucht einfach nur, einen guten Eindruck zu machen. Normalerweise würde er meine stehlen.«
Clay wollte den Teller wieder zu sich herüberziehen, aber ich packte ihn und hielt ihn an Ort und Stelle fest.
»Clay hat mir gerade von Nick erzählt«, sagte Joey. »Er sagt, er macht jetzt das Graphikdesign für die Firma von seinem Dad. Ich versuche immer noch dahinterzukommen, ob das ein Witz war.«
»Nein, war’s nicht. Es scheint Nick wirklich Spaß zu machen. Er hat ein Auge für Design.«
»Okay, das kann ich mir sogar vorstellen. Ich weiß noch, wie lang der Typ gebraucht hat, wenn er sich bloß mal ein Hemd kaufen wollte. Und ich wette außerdem, im Graphikdesign arbeiten jede Menge hübsche junge Frauen.«
Wir lachten. Vor fünf Jahren hätte ich angenommen, dass das tatsächlich der Hauptgrund für Nicks Interesse sein musste. Aber in letzter Zeit hatte er in seinem Leben Änderungen vorgenommen – hatte einen Job gefunden, der ihm Spaß machte, tauchte allen Ernstes an seinem Arbeitsplatz auf und spielte eine aktivere Rolle im Familienunternehmen.
Etwa zu der Zeit, als ich schwanger geworden war, hatte sich Nick zunehmend rastlos gefühlt. Er hatte eine Weile lang sogar mit der Möglichkeit geflirtet, selbst ein Kind zu zeugen; diese Idee hatte vorgehalten, bis die Zwillinge da waren und er zu dem Schluss gekommen war, dass Babys dann doch ein größeres Zugeständnis an eine Welt häuslicher Sesshaftigkeit darstellten, als er zu machen bereit war.
Der Gedanke an Nick erinnerte mich daran, dass er mir am vergangenen Abend eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte. Nichts Ernstes, einfach nur ein kurzer Kontakt; er wollte ein Update, und er hätte gern mit mir über Reese gesprochen.
Clay und Joey redeten noch eine Weile weiter, brachten einander auf den letzten Stand. Es war nicht gerade die entspannteste Unterhaltung, aber Joey gab sich ganz unverkennbar Mühe, und also beantwortete Clay all seine Fragen.
Als die Schlange am Buffet verschwunden war, ging ich hin, um mir selbst einen Teller zu besorgen. Ich kehrte an einen schweigsamen Tisch zurück, als seien sie in dem Moment, in dem Clay mit seinem Bericht fertig war, gegen eine unsichtbare Mauer gerannt; die freundschaftliche Stimmung war verflogen, nachdem ihnen aufgegangen war, wie wenig sie inzwischen noch gemeinsam hatten.
»Du hast unsere Nachricht also gekriegt«, sagte ich, während ich mich hinsetzte.
Joey nickte; er stocherte in seinem Omelett herum und schob die Pilzstückchen an den Tellerrand. Ich sah zu Clay hinüber. Er zuckte die Achseln und aß weiter.
Schließlich sagte Joey: »Noah ist nicht mein Bruder. Er ist mein Sohn.«
Ich versuchte, nicht überrascht auszusehen. Ich hätte es nicht sein sollen. Es war viel logischer, dass Noah Joeys Jugendsünde war und nicht das Produkt von Dennis’ zweitem Frühling. Allerdings war es auch schwierig, sich Joey jung genug vorzustellen, um eine Jugendsünde überhaupt zu begehen.
»Hast du von ihm gewusst?«, fragte ich, als er nicht weitersprach.
Joey schüttelte den Kopf. »Ich war ein paar Monate lang mit seiner Mutter zusammen, aber ich habe sehr sorgfältig darauf geachtet, Kondome zu benutzen. Oder jedenfalls habe ich das geglaubt. Seine Mutter … hat gern getrunken. Hin und wieder habe ich mitgemacht, also ist es wahrscheinlich gar nicht so verwunderlich, dass ich es ein paarmal vergessen habe. Ich habe die Beziehung beendet, weil sie nicht eingesehen hat, dass sie ein Problem hatte, also bin ich auch nicht sonderlich überrascht, dass sie mir das mit Noah vorenthalten hat. Es war Dad, der ihn gefunden hat – ausgerechnet in einem Einkaufszentrum. Noah war auf dem Weg ins Kino. Er war fünfzehn und hat angefangen, wie ein Werwolf zu riechen, der kurz vor der ersten Wandlung steht. Dad ist ihm gefolgt, und wir sind draufgekommen, wer er sein musste. Noah hat zu dieser Zeit nicht mehr bei seiner Mom gelebt. Sie hatte mit dem Trinken aufgehört und einen wiedergeborenen Christen geheiratet, und der war nicht der Ansicht, dass der Grundsatz ›du sollst deinen Nächsten lieben‹ auch bedeutet, man sollte den Sohn seiner neuen Frau lieben.«
»Wo hat Noah denn dann gelebt?«
Joey zögerte einen Moment, bevor er sagte: »Noah hat Probleme.«
»Fetales Alkoholsyndrom?«
»Eher FAE – fetaler Alkoholeffekt.« Ein
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