Biss der Wölfin: Roman
blässliches Lächeln. »Ja, ich habe meine Recherchen angestellt. Bei Noah sind es eher milde Symptome. Er ist klein für sein Alter. Er hat ein paar Lernschwierigkeiten, ein paar Verhaltensschwierigkeiten. Vielleicht war es der Alkohol, vielleicht einfach die familiäre Situation und das ganze …« Ein Blick in die Runde, zu den Nachbartischen hinüber. »Die Werwolfinstinkte, die sich bemerkbar machen, und seine Verwirrung darüber. Als wir ihn entdeckt haben, war er in einer Jugendstrafanstalt. Er war in Pflegefamilien gewesen und hatte sich mit den falschen Leuten zusammengetan, Tankstellen ausgeraubt. An dem Tag, an dem Dad ihn in dem Einkaufszentrum gesehen hat, hatte er betreuten Ausgang. Er hatte noch ein Jahr abzusitzen und dann ein halbes Jahr in einem Resozialisierungszentrum.«
Joey rieb sich mit der Hand über den Mund. »Es war eine üble Zeit. Noahs Kräfte haben sich entwickelt, die Hormone haben verrückt gespielt, und er hatte keine Ahnung, was eigentlich mit ihm los war. In dem Zentrum ist er ein paarmal ausgerastet, hat sich geprügelt. Bei seiner Körperkraft – und der Tatsache, dass er keine gewalttätige Vorgeschichte hatte – haben sie gedacht, er hätte Drogen genommen. Also hat er Tests machen müssen … Es war die Hölle.«
»Hast du mit ihm reden können?«
»Irgendwann ja. Seine Mom hat zugegeben, dass ich der Vater bin – ich glaube, zu diesem Zeitpunkt war sie froh, ihn bei jemandem abladen zu können. Wir haben ihm schrittweise die Wahrheit gesagt, und es hat sich rausgestellt, dass das gar nicht nötig gewesen wäre. Er hat sich nur so auf die Erklärung gestürzt. Er war richtiggehend begeistert. Kein Sekundenbruchteil Unglauben.«
»Ich nehme mal an, in diesem Alter ist ›du bist ein Werwolf‹ sehr viel cooler als ›du hast gerade einen Nervenzusammenbruch‹«, sagte ich.
Joey nickte. »Genau das war’s, und ich … ich hab’s nicht recht verstanden, und damit haben die Probleme angefangen.« Er machte eine Pause, während der Kellner unsere Kaffeebecher nachfüllte. »Wie ich schon gesagt habe, mein Dad und ich hatten zunehmend unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man mit unserer Identität am besten umgeht. Das war nicht immer so gewesen. Ja, wir hatten uns seit Jahren auf unterschiedlichen Seiten des Spektrums befunden, waren aber beide nicht weit von der Mitte entfernt. Aber als ich älter geworden bin, haben mich die Einschränkungen zunehmend mehr gestört. Ich führe ein normales Leben – Karriere, Freunde, Freundinnen. Mir wegen der Wandlungen Gedanken machen zu müssen, wenn ich dienstlich verreise, oder irgendwie meine Körperkraft zu verbergen, wenn ich mit Freunden Racquetball spiele, oder im Bett immer behutsam zu sein, damit ich sie nicht beiße …« Sein Blick glitt zu mir herüber, und er lief rot an, als habe er einen fürchterlichen Fauxpas begangen.
»Wenn man als Mensch zu leben versucht, dann hat es viel mehr Nachteile als Vorteile, ein Werwolf zu sein«, sagte ich. »Ich hab’s selbst probiert.«
»Dann weißt du, was ich meine. Mein Vater hat diese Seite schon immer mehr ausgelebt, aber er hat auch weniger mit der Welt zu tun als ich. Beruflich selbständig, Pokerkumpel eher als Freunde, immer nur kurzfristige Frauengeschichten … Als er älter geworden ist, hat er angefangen, der wölfischen Seite noch mehr Raum zu geben. Er hat sich die Hütte gekauft, sich lange Wanderungen angewöhnt, ist ein paar von diesen ›Die Wildnis verstehen‹-Gruppen beigetreten, hat ein Interesse an unseren Ursprüngen und unserer Mythologie entwickelt. Mein Dad ist … war, sollte ich wohl sagen …«
Joeys Blick glitt ab; der Kummer grub Furchen rings um seinen Mund. Dann räusperte er sich und setzte sich auf. »Wir waren unterschiedlich, aber es war nie ein größeres Problem, bevor Noah aufgetaucht ist.«
»Was man ihm beibringen sollte«, sagte ich. »Es zu überwinden oder es zu leben.«
»Als sein Vater habe ich geglaubt, es wäre nur natürlich, ihm meine Sicht der Dinge beizubringen. Dad war nicht gerade glücklich drüber, aber er konnte mir da kaum widersprechen. Wenn Noah wieder auf die Beine kommen sollte – die Highschool abschließen, vielleicht aufs College gehen –, dann war ›normal‹ sein offensichtlich die richtige Entscheidung. Nur, dass Noah …«
Er ließ den Satz verklingen; sein Blick glitt wieder ab.
»Er hatte gerade erst herausgefunden, dass er etwas Besonderes war«, sagte ich, »und er war nicht
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