Biss der Wölfin: Roman
Auch als ich bis zu den Augen im Freien war, konnte ich noch nichts erkennen außer ein paar Umrissen im Zwielicht.
Noch ein paar Zentimeter mehr. Clays Murren wurde zu einem Grollen. Ich hielt inne, sobald ich die drei stehenden Gestalten sehen konnte. Sie waren alle zu dick angezogen, als dass ich ihr Alter hätte erraten können, aber bei ihren jeweiligen Berufen machten sie es mir einfacher – zwei hatten Abzeichen an den Mützen, und der dritte trug Camouflagekleidung mit einer Weste in Signalfarben darüber.
Zu ihren Füßen lag der Tote … oder das, was von ihm übrig war. Der größte Teil seiner Kleidung war heruntergerissen worden. Was man noch erkennen konnte, war dunkel vor gefrorenem Blut. Selbst aus größerer Nähe roch er nicht allzu übel – eine menschliche Nase würde den Geruch wahrscheinlich kaum wahrnehmen. Die Kälte hatte die Verwesung aufgehalten, und zu dem Zeitpunkt, da es hier draußen warm genug wurde, um die Leiche wirklich stinken zu lassen, wäre nichts mehr von ihr übrig gewesen, das hätte stinken können. Dass sie unter dem Schnee gelegen hatte, war der einzige Grund, warum die Aasfresser ihr Werk nicht hatten zu Ende bringen können.
Der Körper war angefressen worden, aber solange ich nicht an ihm schnuppern konnte, hatte ich keine Ahnung, wer oder was das Anfressen erledigt hatte – Wolf, Werwolf, Nerz oder eine von dem Dutzend anderer Raubtierspezies, die es hier gab. Und zu wissen, was an dem Mann herumgefressen hatte, hätte mir immer noch nicht verraten, wer oder was ihn umgebracht hatte. Gegen Ende eines langen Winters lassen selbst Wölfe kostenloses Fleisch nicht liegen. Und das, stellte ich jetzt fest, als ich mich auf die Unterhaltung der Männer zu konzentrieren begann, war genau das, was die drei gerade erörterten.
»Frischer Schnee gestern heißt keine Fährten heute«, sagte der kleinere Polizeibeamte. »Keine Möglichkeit rauszufinden, ob’s hundeartig, bärenartig oder Homo sapiens war.«
»Sie meinen, das könnte ein Mensch gewesen sein?« Die Stimme des größeren Beamten überschlug sich vor Jugend und Überraschung.
»Den armen Tom als Abendessen verwenden? Herrgott, ich will’s nicht hoffen, aber bei manchen von den Spinnern, die hier herumlaufen, würde ich’s nicht komplett ausschließen. Gemeint habe ich damit bloß, er könnte ermordet worden sein, und dann sind die Aasfresser gekommen. So zernagt, wie er ist, werden wir’s vielleicht nie rauskriegen.«
»Ich hab Tom immer gesagt, er muss doch verrückt sein«, sagte der Jäger. »Nachts seine Fallen abzugehen. Aber es war halt seine Lieblingstageszeit.«
Einen Moment lang schwiegen sie zu Ehren des Toten.
Der jüngere Beamte sprach als Erster wieder. »Ich hab da hinten ein paar Wolfsspuren gesehen.«
»Wolf?«, fragte der Ältere. »Sind Sie sich da sicher?«
»Ich kann Wolf und Bär unterscheiden, Reed.«
»Er meint damit, es gibt hier draußen mehr als eine Sorte Hundeartige«, sagte der Jäger.
»Und ich meine außerdem, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte der ältere Beamte. »Wenn die Leute was von Pfotenabdrücken neben einer Leiche hören, fangen sie gleich an, ›Wolf‹ zu brüllen.«
»Ich würde auf Halbwolf tippen«, sagte der Jäger. »Diese Deppen in der Stadt, die sich einbilden, es wär cool, einen Hund zu halten, der zur Hälfte Wolf ist … bis sie rausfinden, dass in ihrem Haushündchen was von einem wilden Tier steckt. So was aber auch. Und was machen sie dann? Sie setzen sie hier draußen aus und reden sich ein, sie wären wahre Tierfreunde.«
»Das würde jedenfalls die großen Abdrücke erklären, die die Leute hier gesehen haben, seit das Rudel weitergezogen ist. Ein Halbwolf, der hier ausgesetzt worden ist, sich mit dem Rudel angelegt und die Beute vergrault hat; also sind sie verschwunden. Wenn ein Tier von Menschen aufgezogen wird, hat es keine Angst mehr vor ihnen. Und wenn es Hunger kriegt? Der große zweibeinige Brocken Fleisch da sieht verdammt schmackhaft aus.«
Als ich mich ins Unterholz zurückzog, schnaufte Clay erleichtert und trabte um mich herum, um mich an einen sichereren Ort zu scheuchen. Auch in der Nähe von Menschen aufgewachsen zu sein hatte ihn nie von dem instinktiven Gefühl befreit, dass es kein gutes Zeichen war, wenn sich ein Mensch im Wald aufhielt. Und in diesem Fall lag sein Instinkt vollkommen richtig. Wenn die drei Männer dort ausgerechnet in diesem Moment einen großen gelben Wolf zu Gesicht
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