Biss der Wölfin: Roman
bedeutet, in den letzten vierundzwanzig Stunden sind sechs Werwölfe in dein Territorium eingedrungen, und du hast es nicht mal gemerkt?«
»Die muss ich bei meinen täglichen Grenzpatrouillen wohl übersehen haben.« Er hielt das Tablett nur noch mit einer Hand. »Du verstehst es wirklich nicht, oder? Nein, ich hab sie nicht bemerkt, weil es mich nicht interessiert. Ich will mein Leben nicht auf diese Art leben, ständig auf der Hut sein, immerfort wachsam, trainiert bleiben, damit ich es mit dem nächsten Herausforderer aufnehmen kann, und dabei wissen, dass hinter der nächsten Ecke wieder einer wartet. Das ist genau das Zeug, das ich hinter mir lassen wollte, als ich nach Alaska gekommen bin.«
»Das wäre absolut in Ordnung, wenn du andere Werwölfe dazu bringen könntest, deine Vorstellungen zu respektieren. Aber leben und leben lassen ist einfach nicht der werwölfische Leitspruch, ganz egal, wie sehr du und ich es uns vielleicht auch wünschen.«
Jetzt sah er mich an. Er sah mich wirklich an, zum ersten Mal, seit ich ihn angeredet hatte.
»Meine Welt ist dies hier auch nicht«, sagte ich. »Ich bin als Mensch geboren. Als Mensch aufgewachsen. Es gefällt mir, ein Werwolf zu sein – das würde ich nie bestreiten –, aber es gibt Aspekte dabei, die mir wirklich nicht gefallen. Ich habe gerade zwei Tage damit verbracht, hinter einem zwanzigjährigen Jungen herzurennen, weil ein paar Mutts ihn sich als Sündenbock für ihre Menschenfresserei ausgesucht hatten und ihn umbringen wollten. Ich hab ihn bis nach Anchorage verfolgt, und was passiert? Ein paar ganz andere Mutts finden ihn vor mir und hacken ihm zwei Finger ab. Er hat sie nicht herausgefordert. Er hat ihnen sogar gesagt, er wäre nicht auf Dauer hier. Aber die wollten eben, dass er sofort verschwindet. Und das ist die Welt, in der wir leben. Diese Mutts werden dich finden, und wenn sie dich gefunden haben, wirst du sie nicht einfach höflich bitten können, dich in Frieden zu lassen. Sie haben schon d…« Ich unterbrach mich eben noch rechtzeitig. »Clay muss wirklich mit dir reden.«
Das Visier fiel wieder herunter. »Nein.«
»Es geht um deinen Vater.«
Joey runzelte die Stirn. »Ach, zum Teufel. Lass mich raten. Dad hat sich bei Jeremy über mich beschwert, und Jeremy hat Clay hergeschickt, damit wir ein gutes Gespräch führen können. Mein alter Kumpel, der mich wieder auf den rechten Weg bringen soll.«
»Nein, dein Vater hat Jeremy gegenüber nicht ein Wort von all dem gesagt. Aber ich habe gestern mit seinem Vermieter geredet. Wenn ich recht verstehe, hattet ihr beide ein Zerwürfnis?«
»Nein, wir haben uns einfach … auseinanderentwickelt.«
Nach dem, was der Hausverwalter erzählt hatte, war es vor allem Joey gewesen, der das Auseinanderentwickeln erledigt und sich weiter von allem Werwölfischen in seinem Leben distanziert hatte, einschließlich seines Vaters.
»Sieh mal, was diese Mutts angeht«, fuhr Joey fort. »Sag Clay, ich weiß es zu schätzen, dass er mich warnt. Wenn ihr Schwierigkeiten habt, meinen Dad aufzutreiben, dann mache ich es und gebe die Warnung weiter. Aber Clay braucht sich meinetwegen keine Gedanken zu machen. Ich bin kein Werwolf mehr. Nicht so, wie ihr beide es seid oder mein Vater es ist. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Typ, der einfach bloß mit dem Problem klarkommen muss, dass er zweimal pro Monat in den Schuppen verschwindet und sich in einen Wolf verwandelt. Ich gehe nicht in Anchorage rennen. Ich gehe auch nicht im Wald rennen. Ich gehe außerhalb der Stadt nicht mal wandern. Diese Typen werden mir wahrscheinlich nicht in den Weg laufen, und wenn sie’s tun, dann gehe ich in die andere Richtung. Und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest …«
Er machte Anstalten, sich zu entfernen.
»Joey.«
Er blieb stehen; seine Schultern strafften sich. »Ich heiße Joseph.«
»Es tut mir leid.« Ich trat hinter ihn. »Joseph. Das mit deinem Vater. Ich wollte wirklich, dass Clay dir das sagt, aber wir sind gestern Abend zu seiner Hütte rausgefahren. Wir haben ihn gefunden.« Ich zögerte. »Er ist tot.«
Sein Kopf sackte nach vorn. Ich blieb, wo ich war, in seinem Rücken und außer Sicht, aus Respekt vor seiner Reaktion.
»Waren die es?«, fragte er, als er sich mir wieder zuwandte. »Diese Werwölfe?«
Ich nickte.
Sein Blick hielt meinen fest. »Und ihr fragt euch, warum ich mit diesem Leben nichts zu tun haben will? Weil es das ist, wozu es führt. Ganz gleich, was für ein netter Mann einer
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