Biss der Wölfin: Roman
haben ihn einfach zu unvorbereitet erwischt. Er ist daran gewöhnt, diesen Teil seines Lebens vor seinen Kollegen geheim zu halten, also hat er es instinktiv wieder getan.«
Clay antwortete nicht.
Nach einer weiteren Minute des Schweigens sagte er schließlich: »Ich hätte schon vor Jahren Kontakt aufnehmen sollen.«
»Er hätte das Gleiche tun können.«
Clay schüttelte den Kopf. »Ich war sauer, als er gegangen ist, und ich habe kein Geheimnis draus gemacht. Es war an mir, den ersten Schritt zu tun.«
»Was du gerade getan hast.«
»Zu wenig und zu spät.« Er trank einen Schluck Kaffee, sein Blick verschwand in den Tiefen der Tasse.
»Na ja, wir müssen immer noch mit ihm reden, ob es ihm nun passt oder nicht. Wir müssen ihn vor diesen Mutts warnen, wenn er nicht schon weiß, dass sie da sind.«
»Tut er nicht. Sonst würde er nicht einfach so weitermachen, als wär’s ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Wir reden nachher mit Jeremy. Hören uns an, was er uns rät.«
Ich wollte schon sagen, dass ich dies allein erledigen konnte – wenn ich Alpha werden wollte, dann musste ich in der Lage sein, einfache Entscheidungen dieser Art zu treffen. Aber so unbekümmert Clay sich am Abend zuvor auch über den Führungswechsel geäußert hatte, Veränderungen waren nicht einfach für ihn. Es lag in seinem Wesen, Jeremy zu gehorchen, und im Augenblick war es wohl am besten, ihm seine vertrauten Muster zu lassen.
Während wir noch über unserem Kaffee saßen, bemerkte ich neben der Theke eine Pinnwand für Ankündigungen und Mitteilungen aus der Nachbarschaft. An oberster Stelle war ein kleines Plakat mit den Fotos von drei jungen Frauen angebracht.
Der Angestellte war in die Räume weiter hinten verschwunden, also entschuldigte ich mich und ging zu der Wand hinüber. Wenn Clay es hörte, ließ er es sich nicht anmerken.
Wie ich vermutet hatte, handelte es sich um die drei vermissten Frauen, von denen der Journalist mir gestern erzählt hatte. Sie waren alle zwischen siebzehn und zwanzig. Zwei Ureinwohnerinnen, eine war europäischer Abstammung. Alle drei waren jeweils an einem Samstagabend in Anchorage verschwunden.
Das Plakat nannte die Straßen, in denen sie zuletzt gesehen worden waren, nicht aber den genauen Ort. Wenn ich jetzt hätte raten sollen, dann hätte ich gesagt, dass sie sich vermutlich alle in Bars aufgehalten hatten, obwohl sie noch nicht trinken durften. Die Frauenhilfegruppe, die das Plakat gedruckt hatte, hatte diese Information weggelassen, weil man dort wusste, dass sie nicht die richtige Sorte Mitgefühl wecken würde. Es hätte nicht drauf ankommen sollen. Was sprach dagegen, in diesem Alter am Samstagabend eine Bar aufzusuchen? Aber es würde eben nicht die gleiche Reaktion hervorrufen, als wenn sie alle aus der Bibliothek verschwunden wären.
Ich sah mir die drei Fotos an. Die Mädchen waren alle hübsch, aber auf die durchschnittliche Art, auf die die meisten jungen Frauen hübsch sind. Niedlich genug jedenfalls, um den Blick eines Typen auf sich zu ziehen. Und den Blick von irgendwem hatten sie mit Sicherheit auf sich gezogen.
Hatten sie die Bar mit dem falschen Mann verlassen? Hatte jemand sie bis zu ihrer Wohnung verfolgt? Hatte ihr Verschwinden etwas mit den Mutts zu tun? Das war die Eine-Million-Dollar-Frage.
Die Daten überschnitten sich mit den angeblichen Wolfsrissen. Zuvor war ich bereit gewesen, die mögliche Verbindung als höchst unwahrscheinlich abzutun, weil die Vermisstenfälle in der Stadt und die im Wald gefundenen Leichen einfach zu unterschiedlich schienen, aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher.
Unterschiedlich, ja. Aber zwei spezifische Typen von Opfern, die zwei spezifischen Bedürfnissen hätten dienen können – nach Jagd und nach Sex. In beiden Fällen würde es mit einer Leiche enden. Jedoch war es im Wald nicht nötig, die Leiche verschwinden zu lassen – die Wölfe würden als Erklärung herhalten.
Wenn die Leute allerdings die gleichen halb aufgefressenen Leichen in der Stadt fanden, würde aus Besorgnis schlagartig Panik werden, und jeder Waffen besitzende Bürger würde bereit sein, das erste große Hundewesen zu erschießen, das er zu sehen bekam. Nicht einmal der dreisteste Mutt würde sein Nest in diesem Maß beschmutzen.
»Du glaubst, es gibt eine Verbindung?«, fragte Clay, der hinter mich getreten war.
»Ich will’s jedenfalls nicht ausschließen.« Ich drehte mich zu ihm um. »Bist du so weit, dass du gehen willst?«
»Yeah.
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