Bisswunden

Sie haben die Bestätigung erhalten, dass man Sie missbraucht hat, bevor Sie auch nur anfangen konnten, sich wieder zu erinnern. Angesichts der Probleme, mit denen wir seit so langer Zeit kämpfen, könnte sich diese Information als das größte Geschenk Ihres Lebens erweisen. Ich weiß, es fällt Ihnen im Moment schwer, es so zu sehen, aber ich denke, dass ich Recht habe.«
    »M-hm.«
    »Hören Sie mir zu, Cat. Dies ist eine sehr gefährliche Zeit für Sie. Ich möchte Sie sehen, so schnell Sie mich in meiner Praxis besuchen können.«
    »Wie ich bereits sagte, ich bin im Moment nicht in der Stadt.«
    »Sie müssen kommen, auf jeden Fall. Trinken Sie?«
    »Ich habe nicht mehr getrunken seit … schon eine ganze Weile nicht. Ich bin schwanger.«
    »Was?« Diesmal gelingt es Hannah nicht, ihren Schock zu verbergen.
    »Ich weiß, ich hätte Sie schon früher anrufen müssen. Aber es geht mir ganz gut dabei.«
    »Hören Sie, Cat. Ich denke, wir sollten eine stationäre Entgiftung in Betracht ziehen. Gefolgt von einem Entziehungsprogramm. Das schaffen Sie nicht alleine. Nach dem, was Sie mir heute erzählt haben, kann niemand wissen, was noch alles passieren wird. Flashbacks, körperliche Erinnerungen, Selbstmordimpulse. Bitte sagen Sie mir, wo Sie sind.«
    »Es geht mir gut, wirklich. Ich wollte Sie nur etwas fragen.«
    »Was?«
    »Falls mein Daddy das wirklich mit mir gemacht hat … wie kann meine Mutter nichts davon wissen?«
    Dr. Goldman nimmt sich Zeit, bevor sie antwortet. »Es gibt unter den gegebenen Umständen in der Regel zwei oder drei Szenarien, die das Verhalten der Mutter erklären. In gewisser Hinsicht weiß sie von dem Missbrauch. Doch ohne weitere Informationen vermag ich nicht zu sagen, ob Ihre Mutter es nicht wahrhaben wollte oder ob sie die Tat schweigend gebilligt hat … Wie dem auch sei, das oberste Ziel jeder Mutter ist es, ihre Familie zusammenzuhalten, koste es, was es wolle. Trotzdem wäre es natürlich möglich, dass Ihre Mutter tatsächlich nichts von diesen Vorgängen gewusst hat.«
    »Hatten Sie einen Verdacht, Hannah? Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass ich als Kind vielleicht sexuell missbraucht worden sein könnte?«
    »Es ist mir ein-, zweimal durch den Sinn gegangen, ja. Doch heutzutage fangen wir nicht von uns aus mit dieser Ideean, solange der Patient uns nicht dorthin führt. Und das haben Sie nie getan. Ich dachte, der Mord an Ihrem Vater wäre ausreichend traumatisch gewesen, um die Probleme zu verursachen, die wir gesehen haben. Doch nun, angesichts dieser neuen Erkenntnisse, können wir eine Menge Arbeit verrichten. Wir müssen sogar. Ich kenne ein paar Leute, die auf diesem Gebiet wirklich ganz ausgezeichnet sind, Cat.«
    »Kennen Sie Dr. Nathan Malik?«
    »Warum fragen Sie nach Dr. Malik?« Hannahs Tonfall ist plötzlich misstrauisch. »Kennen Sie ihn?«
    »Ich bin ihm begegnet.«
    »Haben Sie ihn als Patientin besucht?«
    »Nein. Glauben Sie, dass er gut ist auf seinem Gebiet?«
    »Er hat eine Reihe interessanter Artikel publiziert. Und er hatte mehrere spektakuläre Erfolge mit aufgedeckten Erinnerungen. Allerdings benutzt er radikale Techniken. Sie sind nicht anerkannt und vielleicht sogar gefährlich. Ich würde Sie nicht in der Obhut von jemandem wie Malik wissen wollen, Cat. Dazu sind Sie nicht stabil genug.«
    »Ich habe nur gefragt.«
    »Cat, sind Sie in Ihrem Wagen? Ich halte es für keine gute Idee, in Ihrem Zustand zu fahren.«
    Dr. Goldman hat viele Anrufe von Parkplätzen und Standstreifen auf Highways erhalten. »Nein. Ich sitze nur im Auto.«
    »Sind Sie an einem sicheren Ort?«
    Ich blicke hinüber zur Insel, die unter den grauen Wolken geheimnisvoll und bedrohlich wirkt. »Ja.«
    »Wo sind Sie in ihrem Zyklus? Oben oder unten?«
    »Weder noch. Ich bin betäubt.«
    Ein scharfes Einatmen verrät mir ihre Besorgnis. »Cat, meine Sorge ist, dass diese neuen Informationen eine manische Phase auslösen könnten. Sie befinden sich in einem Schock. Sie haben keine Abwehrkräfte mehr außer der Manie. Indem Sie in eine manische Phase wechseln, spiegelt Ihr Gehirn Ihnen Unverwundbarkeit vor. Und wenn dann etwaspassiert, wenn Sie dann zusammenbrechen …« Statik übertönt Hannahs Stimme. »Das Wichtigste für Sie in diesem Augenblick ist, sich stets ins Gedächtnis zu rufen, dass es nicht Ihre Schuld ist, was zwischen Ihnen und Ihrem Vater geschah, Cat. Sie waren ein Kind. Sie hatten keine freie Wahl. Sie …« Die Statik kehrt zurück, und diesmal