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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Verhältnis zum Ufer vergewissert habe – noch ungefähr eine Minute, bevor ich schwimmen muss –, wähle ich Michaels Nummer. Er antwortet beim dritten Läuten.
    »Dr. Wells«, sagt er, und es klingt, als rechne er mit allem, angefangen bei einem Kleinkind mit einer Erkältung bis hin zu einem Baby mit Meningitis. Tränen schießen mir in die Augen, und urplötzlich wird mir bewusst, dass der Hauptunterschied zwischen Michael und mir darin besteht, dass er lebendige Patienten behandelt, während ich nur mit Toten arbeite.
    »Ich bin es, Cat Ferry.«
    »Cat! Ist alles in Ordnung?«
    »Ja und nein. Offen gestanden, ich stecke in Schwierigkeiten.«
    »Was für Schwierigkeiten?«
    »Ich brauche eine Mitfahrgelegenheit.«
    »Eine Mitfahrgelegenheit? Okay, ich komme dich holen. Wo bist du?«
    Ich schließe die Augen vor Erleichterung und Sorge zugleich. »Ich bin ungefähr vierzig Meilen Luftlinie südlich von Natchez, aber über die Straße sind es eher um die siebzig.«
    Eine kurze Pause. Dann sagt Michael: »Das ist in Ordnung. Sag mir einfach nur, wohin ich fahren soll.«
    Gott segne dich  … »Ich bin irgendwo am Highway One auf dem Westufer des Mississippi, in der Nähe des Morganza Spillway. Weißt du, wo das ist?«
    »Jepp. Ich bin schon mehrfach den Fluss entlang nach Baton Rouge und New Orleans geflogen.«
    »Wenn du schon mal in die grobe Richtung losfahren könntest? Ich sage dir genau, wo du mich findest, sobald du in der Nähe bist.«
    »Ich fahre sofort los. Bist du sicher, Cat? Ich meine, brauchen wir Polizei oder so was?«
    »Vielleicht einen Erste-Hilfe-Koffer. Ich werde selbst mit der Polizei reden. Und es besteht keine Gefahr für dich. Ich weiß, es ist ein verdammt großer Gefallen, um den ich dich bitte, aber …«
    »Denk nicht daran. Ich bin unterwegs.«
    Ich bin inzwischen weniger als eine viertel Meile vom Ufer entfernt, doch der Baum unter mir gleitet inzwischen wieder nach links. Die Strömung zieht uns zurück in die Mitte des Flusses.
    »Ich muss jetzt aufhören, Michael. Ich melde mich bald wieder bei dir. Und danke. Danke, Michael.«
    »Ich bin schon unterwegs«, wiederholt er. »Mach dir keine Sorgen.«
    Ich lege auf, dann packe ich das Handy zurück in den Beutel. Diesmal lasse ich den Verschluss ein klein wenig offen und blase Luft in den Beutel, bis er gefüllt ist wie ein Ballon. Dann erst verschließe ich ihn richtig. Wenn ich ihn aus irgendeinem Grund fallen lasse, schwimmt er wenigstens an der Oberfläche.
    Ich nehme den Beutel zwischen die Zähne wie ein Bernhardiner und klettere an den Wurzeln nach unten, bis ich zur Hälfte im Wasser bin. Dann drücke ich mich ab und kraule in Richtung Ufer. Nach dreißig Metern, als ich weit genug weg bin von dem Baum, der mich gerettet hat, wechsle ich zu Brustschwimmen. In ruhigem Wasser könnte ich mit Leichtigkeitbis zum Ufer kraulen, doch die Wellen sind immer noch ziemlich hoch. Wenn ich brustschwimme, werde ich in gleichmäßigem Rhythmus über die Wellen getragen und kann dabei viel besser atmen.
    Fünfzehn Minuten stetigen Schwimmens bringen mich bis auf zwanzig Meter ans Ufer heran. Ich habe noch immer genügend Luft, doch meine Arme und Beine fühlen sich allmählich bleiern und schwer an – das gleiche Gefühl, das ich früher bei Langstreckenrennen hatte. Das Ufer ist an dieser Stelle ziemlich steil. Es gibt nichts, das ich packen könnte, um mich daran aus dem Wasser zu ziehen. Am Ende schwimme ich einfach weiter, bis ich Boden unter den Füßen spüre, und kralle mich mit den Fingern in den schlammigen Sand, während ich mich wie eine Schlange das steile Ufer hinaufwinde.
    Hechelnd wie ein Marathonläufer liege ich auf dem Sand, doch es ist nicht so schlimm, wie ich eigentlich befürchtet hatte. Ich bin beim Freitauchen manchmal so erschöpft an die Wasseroberfläche zurückgekehrt, dass man mir eine Sauerstoffmaske umhängen musste, damit ich bei Bewusstsein blieb. Der Regen peitscht noch immer auf mich herab, doch ich spüre ihn kaum noch. Der Boden unter meinen Füßen kommt mir vor wie das Sicherste auf der Welt, und ich will gar nicht aufstehen.
    Dann verspannt mein Körper sich angstvoll.
    Irgendjemand pfeift. Das Geräusch erstirbt, dann kommt es wieder. Es ist mein Handy. Das Geräusch ist gedämpft in dem wasserdichten Beutel. Ich öffne ihn, nehme das Gerät hervor und den Anruf entgegen.
    »Hallo?«
    »Cat? Ich bin es, Sean. Wo steckst du?«
    »Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir sage. Wo bist du?

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