Bisswunden
ich unter Wasser wie ein Fötus im Mutterleib und lausche dem Geräusch der Schraube. Er muss mich gesehen haben. Warum sonst sollte er an einer Stelle bleiben? Langsam tauche ich auf und hebe den Kopf über das Wasser. Diesmal schneidet ein Schaft weißen Lichts durch denRegen wie das Auge Gottes. Im ersten Moment denke ich, er kommt von einem Schubschiff, doch der Strahl ist zu dicht über dem Wasser. Nein – es ist ein Suchscheinwerfer auf einem drehbaren Halter, der mit dem Rumpf des Motorboots verbunden ist. Wer immer dieses Schiff steuert, hat den Scheinwerfer eben erst entdeckt oder sich gerade erst erinnert, dass er existiert. Vielleicht ist der Killer doch nicht Jesse Billups. Der Vormann von DeSalle Island hätte den Scheinwerfer in dem Augenblick aktiviert, in dem er in das Boot gestiegen wäre.
Der Lichtstrahl gleitet über das Wasser wie der Suchscheinwerfer in einem Gefängnis-Movie. Zuerst in die eine, dann in die andere Richtung, um gelegentlich zu dem einen oder anderen Punkt in den schäumenden Wellen zurückzukehren. Einmal, als der Scheinwerferstrahl flussaufwärts verweilt, entdecke ich in seinem grellen Licht den gewaltigen Wurzelballen eines Baumes. Die eine Hälfte ragt aus dem Wasser, und nach der Größe zu urteilen, ist der Baum sicher fünfundzwanzig Meter lang.
Das Dröhnen des Motors wird lauter, und das Suchlicht nähert sich dem Baum. Der weiße Strahl tastet die Wurzeln ab; der Mann am Scheinwerfer sucht offensichtlich nach einem möglichen Versteck auf diesem natürlichen Gefährt. Ohne Vorwarnung peitscht der Lichtstrahl zurück in meine Richtung. Ich tauche hastig weg. Die voll gesogenen Jeans erleichtern mir das Untertauchen; sie haben keine Luft mehr.
Ich muss sie wieder mit Luft füllen, doch das ist im Augenblick unmöglich. Wenn ich sie über den Kopf schlage, kann ich genauso gut eine Fahne schwenken. Wie die meisten meiner Entscheidungen ist auch die nächste rein instinktiv. Vorsichtig nehme ich den Beutel mit meinem Mobiltelefon aus der Tasche und lasse die Jeans versinken. Dann paddle ich in Richtung des Motorboots; der Scheinwerfer verrät mir, wo es sich befindet. Mein Ziel ist nicht das Boot selbst – oder der Mann darin –, sondern der Baum, der in seine Richtung treibt.
Nach dreißig Sekunden unter Wasser tauche ich auf, ummeinen Fortschritt zu überprüfen. Das Boot ist fünf Meter vor mir; der Mann am Ruder hinter dem Scheinwerfer nicht zu sehen. Ich hole tief Luft, tauche erneut unter und schwimme am Boot vorbei.
Als ich zehn Meter dahinter wieder auftauche, ist der Baum vor mir, pünktlich wie ein Bus. Mit einer Hand greife ich nach einer Wurzel. Es ist, als würde ich den Griff eines Wasserskiseils packen, das von einem Speedboat geschleppt wird. Der Wurzelballen ist der Bug meines Schiffes, die Zweige weit hinter mir bilden das Heck. Der Stamm besitzt einen Durchmesser von fast anderthalb Metern, was mir verrät, dass es sich wahrscheinlich um eine Weide handelt, die vom Hochwasser entwurzelt wurde. Während der Monsterbaum weiter flussabwärts treibt, kletterte ich zu den trockenen Wurzeln oberhalb der Wasserlinie hinauf, und mit einem Mal sind die Wellen, die mich eben noch hin und her geworfen haben, nur noch Teil der Landschaft. Ich reite auf einer fünfundzwanzig Meter hohen Weide wie einst Kleopatra auf ihrer königlichen Barke. Der Killer in seinem Motorboot ist bereits weit zurück, und falls er auf den Gedanken kommt, den Baum erneut abzusuchen, kann ich mich ohne Probleme in dem Gewirr aus Wurzeln und Erde verstecken.
Von meinem Aussichtspunkt aus kann ich viel besser sehen. Das Ufer zu meiner Linken – das östliche – ist in Dunkelheit gehüllt. Zu meiner Rechten reflektieren die tiefen Wolken schwaches bläulich weißes Licht. Dieses Licht muss der Louisiana Highway Number One sein. Dieses Licht bedeutet Zivilisation. Und der Fluss treibt den Baum durch eine weitere Biegung in Richtung des anderen Ufers. In etwa drei Minuten müsste ich mich dem Ufer bis auf dreihundert Meter genähert haben. Die restliche Strecke kann ich mit Leichtigkeit schwimmend überwinden.
Selbst der Regen kümmert mich nicht in meinem Versteck. Die Wurzeln schirmen mich vor ihm ab. Ich werfe einen Blick auf den Beutel mit meinem Mobiltelefon darin und sehe dasDisplay in der Dunkelheit grün leuchten. Das Antennensymbol zeigt drei Balken.
Ich habe wieder ein Netz.
Es ist surreal. Ich treibe auf dem Wurzelballen einer freigespülten Weide den Mississippi
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