Bisswunden
Wellen halte ich mit der rechten Hand die Tasche zu, in welcher der wasserdichte Beutel mit meinem Mobiltelefon steckt. Jedes Mal, wenn ich auf einen Wellenkamm getragen werde, blicke ich mich suchend um und vergewissere mich, dass ich nicht in unmittelbarer Gefahr schwebe. Wenn der Fluss Hochwasser führt, reißt er alle möglichen Dinge mit sich. Die größte Gefahr sind Baumstämme. Manche schwimmen hoch und trocken, andere halb untergetaucht, wie Alligatoren, und reißen die Schrauben von Ausflugsbooten ab oder durchbohren die Seiten von Leichtern. Von der Brücke in Natchez habe ich dreißig Meter lange Baumstämme gesehen, die in den schmutzigen Fluten unter mir wie dünne Zweige auf und ab tanzten.
Zehn Minuten stetigen Schwimmens bringen mich in den Hauptstrom, und in dieser Zeit bin ich wahrscheinlich eine halbe Meile flussabwärts getrieben. Jetzt sind es Frachtkähne, die mir Sorgen bereiten. Der letzte Schubverband ist zwar längst vorbei, doch weitere werden folgen, und ich habe keine Möglichkeit, sie bei diesen Wellen schon von weitem zusehen. Der vordere Schubleichter eines Verbands führt lediglich zwei Lampen: grün auf der Steuerbordseite, rot auf der Backbordseite. Die Schubeinheit selbst kann dreihundert Meter dahinter folgen, und der Steuermann merkt nichts von dem, was sich vor dem Bug seines gigantischen Verbands abspielt. Wenn ich von einem Schubverband erwischt werde, wird niemand es je erfahren, nicht einmal der Mann, der versucht hat, mich zu töten.
Das Geräusch eines Motors durchdringt das wütende Prasseln des Regens, und das Blut gefriert mir in den Adern. Die Frequenz ist zu hoch für eine Schubeinheit; der Motor heult immer wieder auf wie eine Kettensäge, während er sich durchs Wasser arbeitet. Wäre es helllichter Tag, würde ich vielleicht glauben, dass es tatsächlich eine Kettensäge ist – Geräusche werden auf dem Wasser erstaunlich weit getragen –, doch zu dieser Stunde fällt niemand Bäume.
Dieses aufheulende Geräusch stammt von einem Außenbordmotor. Wahrscheinlich von dem Evinrude am Heck des Bootes, das ich auf der Insel zurückgelassen habe.
Jesse ist gekommen, um nach mir zu suchen.
30
I ch strampele auf einen Wellenberg hinauf und sehe eine Taschenlampe etwa dreißig Meter entfernt auf und ab tanzen. Ich kann nur schwer glauben, dass mein Verfolger mir so nah gekommen ist, doch vielleicht hat er meinen Schrei gehört. Falls es Jesse Billups ist, kennt er den Fluss wahrscheinlich sehr gut. Ich versuche mich mit Logik zu beruhigen. Die Chancen sind gering, dass er mich in diesem Mahlstrom entdeckt. Zumindest so lange, wie ich den Kopf unten halte.
Ich drücke die Beine meiner Jeans unter mich, die ständigmehr Luft verlieren, lege mich flach auf das Wasser und höre auf zu treten. Das Heulen des Außenborders wird lauter und erstirbt dann, nur um anschließend noch näher heranzukommen. Jesse hat wahrscheinlich genauso viel Angst wie ich. Ein untergetauchter Baumstamm könnte ihm den Propeller abreißen und das Boot manövrierunfähig machen oder in die Seite krachen und zum Kentern bringen, und er wäre genauso im Fluss gestrandet wie ich. Sein Gewehr würde ihm dann jedenfalls nichts mehr nutzen. Ich frage mich, ob er schwimmen kann. Sein Cousin Henry hat zugegeben, dass er es nicht kann. Aber Jesse war bei der Army, bei der 101st Airborne. Sie bringen ihren Leuten in der Airborne das Fallschirmspringen bei – lehren sie sie auch zu schwimmen? Vielleicht. Eigentlich spielt es keine Rolle. Wenn ich ihn zu mir ins Wasser kriege, kann ich ihn töten.
Ich muss nichts weiter tun, als nah genug zu kommen, um ihn zu erwischen. Wie ein Riesentintenfisch, der einen Pottwal ersäuft. Selbst wenn er mich würgt, könnte ich ihn runterziehen und dort festhalten, bis sein Gehirn erlischt wie eine alte Glühbirne. Es ist ein seltsamer Gedanke. Die einzige Person, die zu töten ich vorher jemals überlegt habe, bin ich selbst.
Plötzlich heult der Motor auf, keine zwanzig Meter von meinem rechten Ohr entfernt. Ich sauge meine Lunge voll mit Luft, ziehe den Kopf ein und tauche drei Meter unter die Oberfläche, während ich die Jeanstasche umklammere, die den Beutel mit meinem Mobiltelefon enthält. Ich höre das Geräusch des Propellers, ein hohes Surren wie von einem Küchenmixer. Das Boot scheint sich nicht von der Stelle zu bewegen, sondern lediglich seine Position im Fluss zu halten. Kann es sein, dass Jesse mich in den Wellen entdeckt hat?
Zwei Minuten schwebe
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