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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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die Erschöpfung vom Durchschwimmen des Flusses. Ich fühle mich seltsam losgelöst von allem, auch von mir selbst. In meinem Herzen ist ein Gefühl von Hohlheit, das wohl der Anfang von Trauer ist. Ich habe heute so viel verloren. Sean – durch meine eigene Entscheidung, wenn nicht durch seine. MeinenVater, der all die Jahre nach seinem Tod stets in meinem Herzen geblieben ist und der heute Nachmittag zu sterben begann, als Großvater mir erzählt hat, was er getan hat. Meine Mutter, die mich nicht vor den heimlichen Gelüsten meines Vaters hat schützen können, aus welchem Grund auch immer. Selbst Pearlie, die all die Jahre so viel vor mir verheimlicht hat. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob ich wissen will, wie viel und seit wann sie es wusste.
    Und da bin ich, die Frau, die es trotz abwechselnder Phasen aus Depression und Manie geschafft hat, sich auf ihrem Gebiet bis ganz nach oben zu arbeiten. Sie ist ganz und gar nicht die Frau, die ich immer in ihr gesehen habe. Ein Teil von mir war immer schon geheuchelt. Die öffentliche Person – die Karrierefrau, die sich von niemandem etwas vormachen ließ – war eine professionelle Doppelgängerin, die ein kleines Mädchen voller Selbstzweifel beschützt hat, ein kleines Mädchen, das heimlich fast rund um die Uhr Wodka trank, um einen Schmerz zu betäuben, den es nicht verstand, und das einen Mann brauchte, um es vor Gefahren zu beschützen, die zum größten Teil nur in seinem Kopf existierten. Und doch bildete dieses Bündel aus Widersprüchen ein Ganzes, das in der äußeren Welt effektiv zu funktionieren imstande war. Ein Ganzes, das ich einigermaßen mochte. Doch jetzt hat der formlose Schmerz, vor dem ich mein ganzes Leben lang weggelaufen bin, endlich ein Gesicht. Und dieses Gesicht gehört meinem Vater. Plötzlich ergeben die wilden emotionalen Ausschläge meiner Vergangenheit einen Sinn. Ich bin nicht länger ein Rätsel. Ich bin plötzlich ein offenes Buch. Eine Fernsehshow.
    Mein Mobiltelefon summt.
    unbekannter anrufer, steht auf dem Display.
    Ich fürchte mich davor, den Anruf entgegenzunehmen, als würde ich dem Anrufer damit verraten, wo ich bin – wie das Auge Saurons, das Frodo sehen kann, sobald der Hobbit den Einen Ring überstreift. Doch das ist verrückt. Ich atme einmal hastig durch, dann nehme ich das Gespräch entgegen.
    »Ist dort Catherine Ferry?«, fragt eine präzise Stimme.
    Mein Körper versteift sich. »Dr. Malik?«
    »Ja. Ich wollte nicht, dass Sie glauben, ich würde Sie ignorieren. Wir können nicht lange miteinander reden, fürchte ich, doch wir sollten uns bald treffen. Ich bin sicher, Sie haben schwierige Zeiten durchgemacht seit unserer letzten Unterhaltung.«
    »Das habe ich«, gestehe ich. Meine Hände zittern unkontrolliert.
    »Das war nur zu erwarten, Catherine. Hatten Sie Träume? Flashbacks? Irgendetwas in der Art?«
    »Alles zusammen. Ich habe heute Morgen herausgefunden, dass ich als Kind sexuell missbraucht wurde.«
    »Das hatte ich bereits vermutet, als Sie noch Medizinstudentin waren. Dr. Omartian war schließlich fünfundzwanzig Jahre älter als Sie. Und es gab weitere Hinweise. Wir können uns gerne über das alles unterhalten. Ich fürchte allerdings, dass wir es auf einen späteren Zeitpunkt verschieben müssen.«
    »Mein Großvater hat meinen Vater getötet.«
    Stille. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
    »Großvater. Er sagt, er hätte Daddy überrascht, wie er sich an mir vergangen hat.«
    »Warum sollte er Ihnen nach all den Jahren so etwas erzählen?«
    »Weil ich es sowieso herausgefunden hätte.«
    Eine Pause. »Ich verstehe.«
    Ein Scheinwerferpaar blitzt in der Dunkelheit auf und jagt an der Tankstelle vorüber. Das Licht streift für höchstens eine Sekunde über mich, doch die Tatsache, dass es mich überhaupt erfasst, lässt mich erschauern. »Sie wissen, dass die Sonderkommission Sie jagt?«
    »Ja.«
    »Das fbi glaubt, Sie hätten die Opfer in New Orleans ermordet.«
    »Gestern haben Sie es noch selbst geglaubt.«
    Er hat Recht. Ich bin nicht sicher, was ich jetzt glauben soll. Ich weiß nur, dass ich mich jetzt, während ich mit diesem Mann spreche, von dem Polizei und fbi glauben, dass er fünf Männer auf brutale und vorsätzliche Weise ermordet hat, ruhiger fühle als seit Tagen.
    »Glauben Sie das immer noch, Catherine?«
    »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Wenn die Morde tatsächlich sexuell veranlasst sind, dann glaube ich nicht, dass Sie es getan haben. Falls aber nicht … dann waren

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