Bisswunden
bevor ich bei dir angerufen habe, fand ich heraus, dass ich als Kind sexuell missbraucht wurde.«
Er nickt bedächtig. »Ich dachte mir schon, dass es etwas in der Art sein muss, als du mich nach unterdrückten Erinnerungen gefragt hast. Ich habe heute in der Fachliteratur nachgelesen. Du hast mich neugierig gemacht.«
Ich sitze noch keine fünf Minuten in seinem Wagen, doch mein Kopf ist bereits schwer, und meine Gedanken sind benebelt. »Wir können gerne darüber reden«, murmele ich, »Aber ich muss erst ein paar Minuten ausruhen.«
»Cat? Wach auf!«
Ich schrecke blinzelnd hoch und sehe mich um. Ich sitze in einem schwarzen Pick-up in einer hell erleuchteten Garage.
»Wo sind wir?«
»Bei mir zu Hause«, sagt Michael. »In Brookwood.«
»Ich war nicht sicher, wohin du gebracht werden möchtest. Ich hab versucht dich zu fragen, aber du warst nicht wach zu kriegen. Ich bin bei meiner Praxis vorbeigefahren und habe Nähbesteck geholt, und dann habe ich dich hergebracht. Komm, wir nähen deine Wunde. Danach bringe ich dich zum Haus deines Großvaters.«
Wie in mein Gehirn eingebrannt kommen mir Nathan Maliks Worte in den Sinn. Vertrauen Sie niemandem. Nicht einmal Ihrer Familie. »Ich will nicht nach Hause.«
»Musst du auch nicht. Ich bringe dich, wohin auch immer du möchtest. Oder du bleibst hier. Ich habe drei zusätzliche Schlafzimmer. Es liegt ganz an dir.«
Ich nicke dankend, aber ich sage nichts. Ich weiß nichtgenau, was ich will. Ich möchte definitiv, dass die Wunde an meinem Oberschenkel genäht wird. Sie schmerzt höllisch, und Nähen bedeutet örtliche Betäubung. Wenigstens hoffe ich das. »Hast du Lidocain mitgebracht?«
Michael schüttelt den Kopf. »Nein. Ich dachte, wer auf hundert Meter Tiefe freitauchen kann, verträgt auch ein paar Stiche, ohne gleich in Schweiß auszubrechen.«
Er sieht mich an, als meinte er es ernst, doch nach ein paar Sekunden des Blickkontakts greift er in die Tasche und bringt eine Ampulle mit einer klaren Flüssigkeit zum Vorschein.
»Das magische Elixier«, sagt er grinsend. »Komm, fangen wir an.«
Michael vernäht meine Wunde, während ich auf dem kalten Granit seiner Kücheninsel sitze. Der glänzende Raum erinnert mich an Arthur LeGendres Küche, nur, dass es hier keinen Leichnam am Boden gibt. Michaels Haus wurde in den 1970ern gebaut, und bevor Mrs. Hemmeter es an ihn verkauft hat, war die Inneneinrichtung original. Avocadogrüne Haushaltsgeräte und massive braune Paneele wie in meinem alten Schlafzimmer. Michael hat das Haus von oben bis unten renoviert – und mit überraschend gutem Geschmack für einen Junggesellen.
»Das erinnert mich an meinen Großvater, der mich auf der Insel einmal zusammengenäht hat, als ich mir das Knie aufgeschnitten habe«, erzähle ich, während er mit einer gebogenen Nadel den Faden durch meine Haut bohrt.
»Ich nehme an, er hatte seinen schwarzen Arztkoffer immer bei sich?«
»Oh, er hat eine richtige Klinik unten auf der Insel. Als meine Tante Ann zehn Jahre alt war, saß die Familie während eines Sturms auf der Insel fest. Tante Ann hatte einen entzündeten Blinddarm. Großvater hat sie im Laternenlicht operiert, und eine der Frauen auf der Insel hat ihm dabei assistiert. Das ist eine seiner Heldengeschichten, aber sie ist ziemlich beeindruckend, finde ich.«
Michael nickt und näht weiter. »Du wärst überrascht, was man alles kann, wenn die äußeren Bedingungen es verlangen. Ich war einige Male auf medizinischen Hilfseinsätzen in Südamerika … ich habe unglaubliche Dinge gesehen. Geburtshelfer, die im Freien eine Frau nach der anderen sterilisiert haben. Sie legen sie auf eine Bank, schneiden sie auf, verschließen die Eileiter mit speziellen Plastikklammern und nähen sie wieder zusammen.«
»Jesses!«
Er lacht. »Ich würde diese Methode nicht gerade für eine amerikanische Hausfrau empfehlen, aber in Südamerika funktioniert sie.«
Medizinische Hilfseinsätze. Ich habe das Gefühl, dass hinter Michael Wells weit mehr steckt, als die meisten Menschen wissen. »Es gefällt mir, was du aus diesem Haus gemacht hast.«
»Tatsächlich? Das meiste davon hat deine Mutter gemacht.«
»Du machst Witze.«
»Nein. Als ich in die Stadt gekommen bin, hatte ich kaum Zeit zum Atmen, geschweige denn, ein Haus einzurichten. Eines Nachmittags bin ich in den Laden deiner Mutter gefahren und habe sie beauftragt, das ganze Haus einzurichten.«
»Jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob es mir gefällt.«
Er lacht.
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