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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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vielleicht oder ein großes Bild. Dann steht er auf und geht zu einer seiner Werkbänke. Er legt den Gegenstand vor sich und greift nach unten zu seiner Mitte, als müsste er seine Hosen aufmachen, um zu pinkeln. Mein Gesicht fühlt sich heiß an. Er pinkelt nicht, weil es dort keineKloschüssel gibt und kein Urinal, nichts außer dem Tisch auf dem Holzboden.
    Seine rechte Schulter ist angespannt und arbeitet, wie wenn er das Metall hämmert. Als wollte er überhaupt nicht mehr damit aufhören. Der Regen prasselt weiter dicht über meinem Kopf auf das Blechdach, und der Schweiß strömt meinem Vater den Nacken hinunter. Dann hebt er den Kopf ein wenig, als würde er an die Decke starren, doch irgendwie weiß ich, dass er die Augen geschlossen hat.
    Ich habe Angst. Ich will weglaufen, doch meine Hände und Beine sind wie betäubt.
    Er wendet sich seitwärts, und dann sehe ich, was er tut, und plötzlich schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich kann nicht mehr atmen. Sein Mund ist schlaff, und so, wie er aussieht, dreht sich mir fast der Magen um. Als er stöhnt und den Kopf hin und her wirft, bricht der Bann, der meine Glieder fesselt, und ich renne plötzlich zurück zur Leiter, renne um mein Leben. Ich krache mit dem Kopf gegen ein Brett, verliere den Halt, und dann falle ich an den Sprossen der Leiter vorbei, rudere Halt suchend mit den Armen, doch das Einzige, das ich zu fassen bekomme, sind Regentropfen …
    »Sieh nur, Cat«, sagt Großvater und deutet auf eine Gruppe von Bäumen. »Sieh nur das Rehkitz dort.«
    Als ich den Kopf drehe, falle ich nicht mehr vom Dachboden der Scheune, sondern ich sitze im orangefarbenen Pick-up meines Großvaters, der den flachen Hügel zum Teich hinaufrumpelt. Ich bin auf der Insel. Noch immer lässt mir die Angst das Herz bis zum Hals schlagen, doch die Gerüche haben sich verändert. Das Heu ist verschwunden, ist Motoröl, Schimmel, Kautabak und dem Rauch von handgedrehten Zigaretten gewichen. Noch hat es nicht angefangen zu regnen, doch der Himmel ist voll bleierner Wolken und so schwer wie der Bauch einer tragenden Kuh.
    Wir zockeln über den Kamm, und Großvater dreht den Kopf und beobachtet, wie sein Preisbulle auf eine Kuh steigt.Großvater strahlt vergnügt. Warum ist er so glücklich? Denkt er an das Geld, das er mit dem empfangenen Kalb machen wird? Oder beobachtet er den Bullen einfach nur gerne dabei, wie er auf der Kuh arbeitet und stößt? Wie oft muss mir ich diesen immer gleichen Film denn noch ansehen?
    Die Kühe voraus beim Teich beobachten uns mit dumpfer Gleichgültigkeit. Dahinter liegt das Wasser so glatt wie ein Spiegel, außer an der Stelle, wo mein Vater treibt, mit dem Gesicht nach unten und mit ausgebreiteten Armen wie Jesus am Kreuz. Ich balle die Fäuste. Ich will die Augen schließen, doch meine Lider gehorchen mir nicht. Stumm vor Angst deute ich mit dem Finger auf den Teich. Großvater blinzelt zu den Wolken hinauf und schüttelt den Kopf.
    »Verdammter Regen«, sagt er.
    Während wir dem Teich entgegenrollen, steht mein Vater auf und fängt an, über das Wasser zu laufen. Mein Herz pocht so laut, dass ich es über den Lärm des Pick-ups hinweg hören kann. Daddy streckt mir die Arme entgegen, dann beginnt er, sein Hemd aufzuknöpfen. Auf seiner Brust sind dunkle Haare. Ich ziehe meinen Großvater am Hemdsärmel, doch er ist völlig gefesselt von dem Bullen auf der Kuh.
    »Daddy! Nicht!«, rufe ich.
    Er öffnet sein Hemd. In der Mitte seiner Brust ist der große, genähte, Y-förmige Einschnitt. Rechts davon das Loch, wo die Kugel ihn getroffen hat. Er steckt zwei Finger in das Kugelloch und reißt es auf. Erneut schlage ich die Hände vor die Augen und spähe zwischen den Fingern hindurch. Irgendetwas strömt aus der Wunde wie Blut, doch offensichtlich ist es keins.
    Es ist grau.
    »Sieh her, Kitty Cat!«, fordert er mich auf. »Ich möchte, dass du hersiehst.«
    Diesmal gehorche ich.
    Das graue Zeug ist nicht flüssig. Es sind lauter kleine Kügelchen, Plastikkügelchen, ein ganzer Strom von Plastikkügelchen, der sich aus der Brust meines Daddys ergießt, genauso, wie es immer bei meinen Stofftieren war, wenn ich zufällig eins aufgerissen hatte. Louisiana Rice Creatures waren ursprünglich mit Reis ausgestopft, doch später wich der Reis Plastikkügelchen. Billiger, schätze ich. Oder vielleicht fing der Reis nach einer Weile an zu verrotten. Die Kügelchen strömen endlos aus der Wunde meines Vaters, ein prasselnder, zischender Strom, der auf

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