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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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verschwunden? Nicht alle. Fragmente aus jener Zeit habe ich immer bei mir getragen. Besonders Bilder von Tieren sind mir in der Erinnerung haften geblieben. Ein Hund, den wir hatten, als ich sehr jung war. Ein roter Fuchs, auf den Pearlie mich aufmerksam gemacht hat, als er geduckt und schnell unter den Bäumen auf Malmaison davonrannte. Pferde auf der Insel, die über den Sand galoppiert sind, als wollten sie den Fluss durchschwimmen und in die Freiheit entkommen.
    Und ich erinnere mich an meinen Vater. Diese Bilder habe ich gehütet wie einen Schatz, wie Gold, das man aus einer vom Krieg heimgesuchten Stadt schmuggelt. Mein Vater … Luke Ferry. Ich sehe ihn, wie er zur Musik aus dem Autoradio tanzt, während er seinen alten, verbeulten weißen Volkswagen wäscht. Wie er mit gesenktem Kopf die Auffahrt von Malmaison hinuntergeht, die Hände in den Hosentaschenvergraben, während er über irgendetwas nachdenkt. Wie er meine Mutter anschreit, aus der Scheune zu bleiben, noch während er mich mit einer Hand nach drinnen zieht. Ich sehe ihm aus dem Dachgebälk der Scheune zu, während er mit einem Schneidbrenner an einer Skulptur arbeitet und den weißglühenden Stahl nach seinem Willen biegt. Von der Stelle aus, wo ich immer saß, war die Flamme dieses Schweißbrenners heller als die Sonne, und das Fauchen klang mir in den Ohren. Der Geruch von Heu umgab mich in diesem Gebälk, ein Geruch, den keine noch so gründliche Reinigung aus der Scheune hätte vertreiben können. Wie viele Nachmittage habe ich oben im Dachgebälk verbracht und meinem Daddy zugesehen, während er einem auf dem Boden liegenden Haufen Schrott Dinge voller Schönheit abrang?
    Mehr, als ihm lieb gewesen war.
    Daddy wusste nicht immer, dass ich da war. Manchmal kletterte ich an der Leiter auf der Rückseite der Scheune nach oben und schlich mich auf diese Weise auf den Dachboden. Es erinnerte mich an Schwarz-Weiß-Filme über einen kleinen arabischen Jungen, der auf diese Weise Leute beobachtete und grandiose Abenteuer erlebte. Meistens hörte Daddy, dass ich kam – seine Ohren müssen scharf gewesen sein wie die eines Luchses –, doch manchmal bemerkte er auch nichts. Wenn er wusste, dass ich dort war, hielt er den Kopf stets irgendwie anders, als wollte er sicher sein, dass ich sehen konnte, was er mit dem Schweißbrenner machte. Ich fühlte mich unendlich privilegiert. Er hatte mich als seine heimliche Beobachterin ausgewählt, die Einzige, der es erlaubt war, dem Magier bei seinen Tricks zuzuschauen. In manchen Nächten war er sehr in seine Arbeit vertieft, und ich sah nichts außer dem Schweiß, der ihm über den Hals und den Rücken rann und sein weißes Unterhemd durchnässte. In jenen Nächten arbeitete er mit einer Inbrunst, die ich nicht einmal annähernd verstand. Er arbeitete wie ein Mann, der die geraden Metallstücke aus tiefstem Herzen hasste und versuchte, ihre Essenz zu zerstören, indemer aus ihnen etwas Abstraktes formte – etwas ohne Funktion und doch voller Bedeutung.
    Jetzt bin ich wieder dort.
    Im Gebälk.
    Mitsamt dem Geruch nach Heu und den Wespennestern und den Moskitos, die tagsüber unter das Dach gesurrt kamen, um mir des Nachts aufzulauern. Ich schlage nicht nach ihnen, weil Daddy mich sonst hört. Ich warte, bis sie sich auf meine Haut gesetzt haben und anfangen, sich mit meinem Blut voll zu saugen, bevor ich sie langsam zu einem rot-schwarzen Brei zerdrücke.
    Wenn die Schweißflamme erlischt, ist die Stille in der Scheune vollkommen. In dieser Stille höre ich zum ersten Mal den Regen. Ich hatte vergessen, dass es regnete. Das ist der Grund, warum er mich nicht gehört hat, als ich mich unters Dach schlich. Die Regentropfen prasseln auf das Blechdach wie Hagel, doch das hypnotische Fauchen der Schweißflamme war laut genug, um sie zu übertönen.
    Daddy geht unten am Boden auf und ab, doch ich kann ihn nicht sehen. Ich recke den Hals und sehe, dass er unter dem Dachboden kauert. Er hockt neben einem der Balken, die das Dach tragen, und schiebt irgendein Werkzeug in eine Spalte zwischen den Dielenbrettern. Nach einer Sekunde blickt er sich um, dann zieht er das Brett heraus. Dann ein zweites. Und noch eins. Er zieht einen Beutel aus dem so geschaffenen Loch im Boden. Der Beutel ist dunkelgrün wie die Jeeps, die auf dem Fuhrpark der Nationalgarde parken, wenn ich dort zum Flohmarkt gehe.
    Ich habe diesen Beutel nie zuvor gesehen.
    Er nimmt etwas aus dem Beutel, doch ich kann nicht sehen, was es ist. Ein Magazin

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