Bisswunden
»Hannah, ich weiß es zu schätzen, dass Sie hergekommen sind, um mir die Nachricht zu überbringen. Aber ich muss Agent Kaiser ein paar Fragen stellen.«
»Ich gehe ihn für Sie holen«, sagt Hannah. »Aber ich möchte, dass Sie mir vorher zwei Dinge versprechen.«
»Okay.«
»Sie lassen mich dabeisitzen und zuhören, während Sie mit Kaiser reden.«
»Natürlich.«
»Und hinterher unterhalten wir beide uns allein.«
Darauf habe ich keine besondere Lust, aber es wäre unhöflich, nicht zuzustimmen. »Einverstanden.«
Während ich allein in der Stille des leeren Büros warte, gerate ich in einen eigenartigen Zustand, wo alle Bilder in meinem Kopf durcheinander fließen. Zuallererst ist da immer noch das Bild von meinem Vater, aus dessen Brust Plastikpellets regnen, und das Bild von Lena der Leopardin, aus deren aufgerissenem Bauch Unmengen von Blut strömen. Ich weiß nicht, was dieser Traum zu bedeuten hat, doch ich muss es herausfinden. Und dazu brauche ich Lena. Nur, dass Lena im Sarg meines Vaters begraben ist, in Natchez, zweihundert Meilen von New Orleans entfernt.
Ich muss raus aus diesem Bau.
Das Geräusch der sich öffnenden Tür und John Kaisers Stimme vermischen sich fast, und ich schrecke zusammen. »Cat – was kann ich für Sie tun?«
Ich erhebe mich und sehe ihm direkt in die Augen. »Ich will sämtliche Einzelheiten über den Selbstmord meiner Tante«, sage ich.
Kaiser blickt fragend zu Hannah Goldman.
»Sie müssen sie nicht behandeln, als wäre sie nicht zusammen mit uns im Raum«, sagt Hannah. »Cat ist daran gewöhnt, Stress zu ertragen.«
Er blickt skeptisch drein. »Was möchten Sie wissen?«
»Weiß meine Mutter schon Bescheid?«
»Ja. Sie ist außer sich. Sie glaubt, dass Anns Ehemann seine Frau ermordet hat.«
»Was?«
»Offensichtlich steckte Ihre Tante mitten in einer üblen Scheidungsgeschichte. Der Ehemann wollte verhindern, dass sie Geld bekam. Ich habe mit dem Burschen gesprochen. Ich glaube, er wusste nicht mal, wo DeSalle Island liegt, bevor ich es ihm verraten habe. Meiner Meinung nach ist es ein echter Selbstmord.«
»Selbstmord«, wiederhole ich. »Auf gewisse Weise war Ann längst tot. Schon seit einer ganzen Weile.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragt Kaiser, doch Hannah nickt nur.
»Das verrate ich Ihnen gleich. Ich möchte vorher genau wissen, wo Ann gefunden wurde, wer sie gefunden hat, wie sie es gemacht hat, ob sie einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, einfach alles. Vergessen Sie für einen Moment, dass ich mit ihr verwandt bin, okay?«
Kaiser lehnt sich gegen die geschlossene Tür. »Eine Frau namens Louise Butler fand sie in einer Hütte auf DeSalle Island. Ich nehme an, Sie kennen sich bestens aus auf der Insel?«
»Mehr, als mir lieb ist, ja.«
»Offensichtlich hat Mrs. Butler nach Ihnen gesucht. Ihr Großvater hat die Suche nach Ihnen abgeblasen, doch Louise war im Wald unterwegs und hatte noch nichts davon gehört. Sie fand stattdessen Ihre Tante.«
Trotz der entsetzlichen Vorstellung tröstet mich das Gesicht der Geliebten meines Vaters, als es vor meinem geistigen Auge entsteht, milchkaffeebraun und mit sechsundvierzig immer noch unglaublich attraktiv. Ich bin froh, dass es Louise war, die Ann gefunden hat, und nicht Jesse Billups. Bei dem Gedanken an meinen letzten Nachmittag auf DeSalle Island überkommt mich eine kalte Gewissheit.
»Hatte das Haus, in dem Ann gefunden wurde, ein Blechdach?«, frage ich.
Kaisers Augen ziehen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Woher wissen Sie das?«
Meine Hände sind plötzlich feucht und klamm. »Wurde Ann in dem Haus gefunden, das die Leute auf der Insel die ›Klinik‹ nennen?«
Er nickt langsam, während er auf eine Erklärung wartet.
»Erzählen Sie mir, wie Ann ausgesehen hat, als man sie fand.«
Kaiser sieht erneut zu Hannah Goldman, doch er antwortet.»Sie war nackt und lag neben einer Untersuchungsliege auf dem Boden.«
In meiner Brust steigt ein tiefer Schmerz auf. Viele Selbstmörder entledigen sich ihrer Kleidung, bevor sie sich das Leben nehmen. Doch Anns Nacktheit hat nichts mit der üblichen infantilen Regression oder dergleichen zu tun. »Hat sie einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Nein.«
Es in der Klinik zu tun war ihr Abschiedsbrief. Kaiser wirft einen weiteren verstohlenen Blick zu Hannah, und mir wird klar, dass er etwas zurückhält.
»Was ist es?«, frage ich.
»Sie hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, aber etwas anderes. Bevor sie starb, hat sie zwei
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