Bisswunden
blättere sie durch, als wären es Bilder von irgendeinem x-beliebigen Verbrechensschauplatz.
Hannah hat Recht. Es ist kein gewöhnlicher Fall.
Der bloße Anblick der Klinik lässt eine Woge von Übelkeit in mir aufsteigen. Ein kleines Haus mit einem Blechdach inmitten eines sonnenverbrannten Fleckens aus Sträuchern. Ein großer Feigenbaum steht daneben. Ich kann spüren, wie mir Splitter aus den Händen gezogen und Tetanusspritzen in den Oberarm gesetzt werden.
Bei den nächsten Bildern bin ich dankbar, dass ich nichts gegessen habe. Sie sind nicht brutal – kein Blut, kein verspritztes Hirngewebe auf einem Esstisch, keine ausgeworfene Patronenhülse im zerschossenen Gesicht eines Leichnams. Es ist nur meine Tante, meine einst so wunderschöne Tante Ann, die nackt auf dem nackten Holzboden liegt, die Brüste und Oberschenkel schlaff wie geschmolzenes Wachs. Ihr Mund steht offen, als würde sie schlafen, doch diesmal ist es ein ewiger Schlaf, und …
»Cat?«, fragt Hannah. »Alles in Ordnung?«
»Ja.«
Es ist ein schräg nach unten gerichtetes Foto. Es zeigt die Beine der Untersuchungsliege, zwei braune Füße in Sandalen – wahrscheinlich die von Louise – und das mit Schnitzereien verzierte Unterteil eines Schranks. Direkt hinter Anns Kopf liegt etwas Rundes, Dunkles, doch ich kann nicht erkennen, was es ist. Ich nehme das Foto und schiebe es unter den Stapel der anderen.
Und dann setzt mein Herzschlag aus.
Auf dem nächsten Bild – aufgenommen aus einem anderen Winkel – liegt ein Stofftier auf dem Boden, ungefähr einen Meter hinter Anns Kopf. Es ist nicht einfach irgendein Tier. Es ist eine Schildkröte. Und ihr Name ist Thomas. Thomas the Timid Turtle.
»Thomas«, hauche ich bestürzt.
»Wie?«, fragt Kaiser.
Ich deute auf die Schildkröte.
Kaiser tritt neben mich, um einen genaueren Blick auf das Foto zu werfen. »Ist diese Schildkröte wichtig?«
»Thomas war Tante Anns Lieblingsspielzeug aus ihren Kindertagen.«
»Das wusste ich nicht. Es gab mehrere Stofftiere in diesem Raum. Wir dachten, dass sie für Kinder waren. Um sich daran festzuhalten, wenn sie eine Spritze bekommen oder etwas in der Art.«
»Das waren sie.« Ivy hat immer Stofftiere in der Klinik gehabt. Sie gab einem Kind eines, sobald es hereinkam. Doch zugleich mit dem Gefühl von Trost kam das Gefühl von Verrat, weil man wusste, dass bald auch der Schmerz einsetzen würde. Trotzdem klammerte man sich an das Stofftier. Es konnte schließlich nichts für den Schmerz. »Thomas war nicht in der Klinik zu Hause. Ann hat ihn mitgebracht. Ich bin überrascht, dass sie ihn nicht festgehalten hat, als sie starb.«
»Das hat sie möglicherweise versucht. Es gibt einige Hinweise, dass sie anfänglich auf dem Untersuchungstischgelegen hat und dann, nachdem sie das Bewusstsein verlor, zu Boden gefallen ist.«
Ich merke nicht, dass ich weine, bis die Tränen auf das obszöne Foto fallen, eines von hunderten, wie ich sie in den vergangenen Jahren immer wieder studiert habe. Ich will nie wieder so ein Bild ansehen müssen.
»Cat?«, fragt Kaiser.
Ich schüttele den Kopf und versuche, mich unter Kontrolle zu bringen, doch die Tränen fließen über mein Gesicht, als wollten sie nie wieder aufhören.
46
B ehutsam nimmt Hannah mir die Fotos aus den Händen und gibt sie Kaiser zurück. »Ich würde sagen, das reicht für den Augenblick.«
»Nein«, widerspreche ich. »Wir müssen weitermachen.«
»Was verrät die Schildkröte Ihnen?«, fragt Kaiser.
Rasch erzähle ich von meinem wiederkehrenden Traum mit dem rostigen Pick-up, dem Teich und meinem Vater, der Lena die Leopardin aus seiner Schusswunde zieht. Während ich rede, beobachtet mich Hannah mit tiefer Konzentration.
»Mein Gott«, sagt Kaiser, als ich geendet habe. »Für Ihr persönliches Leben ist dies wahrscheinlich von größter Bedeutung. Allerdings sehe ich nicht, was das mit unseren Mordfällen zu tun hat. Es klingt in meinen Ohren, als wäre Ihre Tante Ann als Kind missbraucht worden – genau wie Sie –, und als wären diese Stofftiere ein Aspekt von alledem. Der einzige Zusammenhang mit unserem Fall besteht darin, dass Ann Hilgard wahrscheinlich durch ihren sexuellen Missbrauch mit Malik in Berührung kam.«
Ich mache einen Schritt auf Kaiser zu. »Ich muss hier raus.«
»Warum?«
»Ich muss ein paar Dinge erledigen.«
Er sieht Hannah an. »Beispielsweise?«
»Ich möchte das Stofftier sehen, das mit meinem Vater zusammen begraben wurde. Es war mein
Weitere Kostenlose Bücher