Bisswunden
ist, Cat. Es ist mehr, als würden Sie sich selbst verlieren. Sie waren schon immer so etwas wie ein Schatten Ihrer Tante. Die Krankheit Ihrer Tante war vielleicht extremer als Ihre, Cat, doch im Grunde genommen die gleiche.«
Hannah hat Recht, doch was soll ich dagegen tun? »Ich habe Ihnen nicht alles erzählt.«
Ihre Augen verraten mir, dass sie es bereits weiß. Kein Patient erzählt jemals alles.
Ich erzähle ihr von meinem Traum, wie ich meinen Vater beim Masturbieren in der Scheune beobachtet habe, während der Regen auf das Blechdach über meinem Kopf prasselt. Sie lauscht regungslos, bis ich verstumme.
»Den Vater beim Masturbieren zu beobachten kann für ein kleines Mädchen ein traumatisches Ereignis sein«, sagt sie schließlich, »doch es ist eine ganz gewöhnliche Handlung.Abhängig davon, heißt das, was er während dieser Handlung angesehen hat.«
»Ich frage mich, warum ich es in meinem Traum nicht erkennen konnte?«
Sie zuckt die Schultern. »Träume bringen stets mehr Fragen als Antworten mit sich. Daher … daher stehen Sie immer noch vor dem gleichen Rätsel. ›Wer war es, der mich missbraucht hat? War es mein Vater, oder war es jemand anders?‹«
»Ich muss es wissen, Hannah. Ich muss wissen, ob mein Vater ein Held war, der bei dem Versuch starb, mich zu schützen, oder ob er ein Perverser war, der mich niemals wirklich geliebt hat. Und das Gleiche gilt für meinen Großvater. Nach außen hin war er der Held und mein Vater der Irre, doch …«
»Vielleicht ist es weder das eine noch das andere, wissen Sie?«
»Wie meinen Sie das?«
»Vielleicht waren es alle beide, Cat.«
Eine neue Schicht aus Angst legt sich über die bereits vorhandenen am Grund meiner Seele. »Warum sagen Sie so etwas, Hannah?«
Sie scheint plötzlich unsicher, ob sie weitermachen soll. »Viele Missbrauchsopfer wurden von mehreren Tätern belästigt, Cat. Wenn Ihre Mutter durch ihren Vater missbraucht wurde, wäre es durchaus denkbar, dass sie einen Mann geheiratet hat, der ebenfalls diese Neigung besitzt. So etwas geschieht andauernd.«
»Ich glaube nicht, dass ich das ertragen könnte.«
Hannah drückt mich erneut fest an sich. »Ich hoffe sehr, dass es nicht die Antwort ist. Aber wenn Sie diesen Weg einschlagen, Cat, dann sollten Sie auf das Schlimmste vorbereitet sein.«
Sie wechselt das Thema, um mich von meinen düsteren Gedanken abzulenken. »Halten Sie es für möglich, dass der grüne Beutel aus Ihrem Traum noch unter den Dielenbrettern der alten Scheune versteckt ist?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Ich habe ihn nie gesehen, außer in meinem Traum. Und die Scheune ist offensichtlich seit geraumer Zeit abgesperrt und wird nicht mehr benutzt.«
»Warum haben Sie Kaiser nichts von diesem Traum erzählt?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich sehen möchte, was in diesem Beutel ist, bevor er es sieht.« Ich nehme Hannahs Hand und drücke sie. »Werden Sie mir helfen, von hier zu verschwinden?«
Sie lächelt. »Dazu brauchen Sie meine Hilfe nicht. Sie stehen nicht unter Arrest. Selbst das fbi kann Sie nicht festhalten, ohne Sie offiziell zu verhaften, es sei denn, Sie stehen unter Terrorismus-Verdacht. Ihr Problem ist nicht das fbi, sondern das nopd.«
»Das nopd ist kein Problem, wenn es mich nicht findet.«
Hannahs Lächeln erlischt. »Sie wollen wirklich zurück nach Mississippi?«
»Ich muss. Und ich habe das Gefühl, Kaiser möchte, dass ich den Leichnam meines Vaters in eigener Regie exhumiere. Haben Sie es nicht auch gespürt?«
»Zugegeben, ja. Er ist ziemlich gut in nonverbaler Kommunikation.«
»Ja.«
Hannah blickt mich sekundenlang ernst an, dann kichert sie plötzlich wie ein Schulmädchen. »Jede Wette, dass er gut im Bett ist.«
»Ich wusste, dass Sie das denken.«
»Nein, wussten Sie nicht. Aber ich denke, wenn es Ihnen gelingt, aus dem Gebäude zu schlüpfen, wird Kaiser nicht allzu angestrengt nach Ihnen suchen.«
»Trotzdem kann ich nicht einfach mit Ihnen zusammen nach draußen spazieren. Es gibt überall Kameras, ganz besonders im Eingangsbereich. Sie müssen mir helfen, Hannah.«
»Wie?«
»Ich brauche als Erstes Ihr Mobiltelefon.«
Sie nimmt ein silbernes Motorola aus ihrer Handtasche und gibt es mir. Bevor sie ihre Meinung ändern kann, wähle ich die Nummer von Michael Wells’ Handy. Ein paar Sekunden lang fürchte ich, dass er nicht antworten könnte, doch dann nimmt er ab.
»Ich bin es, Cat.«
»Meine Güte, das wurde aber auch Zeit. Ist
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