Bisswunden
über Angola auszuweichen.
»Kannst du noch einmal zurückfliegen?«
»Sicher. Wonach suchst du?«
»Nach einem Wagen. Einem blauen Cadillac.«
»Ich gehe auf dreihundert Meter. Von dort hast du eine bessere Aussicht zwischen den Bäumen hindurch.«
Michael fliegt eine Dreihundertsechzig-Grad-Kehre und steigt gleichzeitig höher. Diesmal sieht die Insel mehr wie auf einem Satellitenfoto aus, und das durch die Nähe verursachte Chaos zieht sich zusammen zu einem geometrischen Muster. Ich erkenne die Straße, die um die gesamte Insel herumführt, und die Abzweigung südlich vom Jagdcamp, die sich in derNähe der Hütten der Arbeiter zu einem offenen Platz weitet. Vier weiße Pick-ups stehen vor den Hütten. Links davon parkt eine babyblaue Limousine, die in der Sonne glänzt.
Pearlies Cadillac.
»Okay!«, sage ich zu Michael. »Fliegen wir nach Hause!«
»Hast du den Wagen gesehen?«
Ich nicke und deute nach Norden, in Richtung von Natchez. Mir ist im Augenblick nicht nach Reden. Ich möchte nur zu gerne wissen, was Pearlie Washington dazu getrieben hat, nach DeSalle Island zu fahren, der Insel, auf der sie geboren wurde – zu einem Ort, an dem sie ihren eigenen Worten zufolge nicht länger willkommen ist.
Ein weiteres Rätsel unter vielen.
Und doch verrät es mir, dass all die anderen Rätsel gelöst wären, wenn ich Pearlies Gedanken lesen könnte.
48
D er Natchez Airport ist eine winzige Anlage: zwei Landebahnen und ein niedriges Administrationsgebäude nahe dem Ursprung des Natchez Trace. Michael vollführt eine perfekte Dreipunktlandung, dann bringt er mich zu seinem Wagen, und innerhalb fünfzehn Minuten nähern wir uns der Zufahrt von Malmaison. Der Anblick des eichengesäumten Zufahrtsweges mit seinem rosafarbenen Touristenschild erweckt eine dumpfe, ungute Vorahnung in mir.
»Möchtest du, dass ich dich bis vor das Haus bringe?«, fragt Michael.
Ich winke an der Lücke zwischen den Bäumen vorbei. »Lass uns zuerst zu dir nach Hause fahren und von dort aus durch den Wald zur Scheune gehen. Ich möchte lieber ungestört bleiben, falls Billy Neal und mein Großvater im Haus sind.«
Michael lenkt den Wagen nach Brookwood hinein und dann zum hinteren Ende der Siedlung, wo sein Haus still unter den Bäumen steht.
»Hast du einen Bolzenschneider oder etwas in der Art?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Vielleicht tut es eine Bügelsäge?«
»Das könnte funktionieren. Was ist mit einer Axt?«
»Ja. Warum? Willst du die Scheune abreißen?«
»Immer schön vorbereitet sein. Warst du etwa nicht bei den Pfadfindern?«
Michael errötet tatsächlich, als er Nein sagt.
Drei Minuten später joggen wir zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Malmaison. Ich trage die Bügelsäge, Michael die Axt. Als das Haupthaus in Sicht kommt, biege ich nach rechts ab, in Richtung des tiefer liegenden Lands, das auf der Rückseite des Grundstücks an das Bayou grenzt. Die Stadt Natchez ist auf Hügeln erbaut und von Bayous und tiefen Gräben durchzogen, ein geheimes Labyrinth von Wasserwegen, in dem Kinder sich auskennen und das sie vergessen, nachdem sie erwachsen geworden sind. Jedenfalls die meisten. Ich kenne sie noch immer alle.
Wir nähern uns der Scheune von der Seite, dann umrunden wir sie zur Rückseite, damit uns niemand sieht, der zufällig vom Parkplatz hinter dem Sklavenquartier in unsere Richtung blickt. Die Holzwände der alten Scheune sind trocken und grau verwittert, doch die Tür widersteht noch immer mühelos einem kräftigen Zerren. Ich setze die Bügelsäge am Vorhängeschloss an und fange an zu sägen. Als mir der Schweiß in Strömen über das Gesicht fließt, löst Michael mich ab. Die Muskeln und Sehnen in seinen Unterarmen treten deutlich hervor, während er arbeitet, und mir dämmert, dass Michael viel stärker ist, als er aussieht – definitiv nicht mehr der dicke Junge, an den ich mich aus der Highschoolzeit erinnere.
»So«, sagt er schließlich und bläst Metallspäne vom Schnitt. »Gib mir die Axt.«
Ich reiche ihm die Axt, und mit dem stumpfen Ende versetzt er dem Schloss einen Schlag. Es springt aus dem massiven Riegel. »Sesam öffne dich«, sagt Michael.
Dann zieht er die Tür auf.
Wir treten ein, und mir stockt der Atem.
Im Innern der Scheune lagern mehr Skulpturen von Luke Ferry, als ich jemals auf einem Haufen gesehen habe. Es müssen sicher zwanzig sein, die meisten größer als ich selbst, einige bestimmt sechs Meter hoch.
»Wow!«, flüstert Michael. »Das ist
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