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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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hindurch zum Scheunentor.
    Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
    Über mir, an einem Querbalken, hängt eine Skulptur, die ich auf dem Weg in die Scheune übersehen habe. Der Dachboden hat beim Eintreten die Sicht darauf versperrt. Doch jetzt hängt sie vor mir. Es ist ein Gehenkter. Stilisiert, aber dennoch ganz eindeutig. Lebensgroß und hässlich wie die Nacht. Das Gesicht ist ein anonymer ovaler Umriss, genau wie die Statue in Louises Haus auf der Insel, doch der Leib ist voller. Zuerst denke ich an Selbstmord, doch irgendetwas an der Skulptur widerspricht diesem Gefühl. Es ist, als wäre dieser Mann wegen eines Verbrechens gehenkt worden. Das Stahlseil um seinen Hals ist perfekt ausbalanciert und endet in einer Schlaufe, die es erlaubt, die Skulptur an nahezu jedem Ort aufzuhängen.
    »Die hab ich noch nie gesehen«, sage ich leise. »Und ich dachte, ich hätte alles gesehen, was er jemals gemacht hat.«
    Nein, widerspricht die bekannte Stimme in meinem Kopf. Die Stücke in Louise Butlers Haus hast du vorher auch nicht gekannt.
    »Das ist etwas anderes«, sage ich laut.
    Tatsächlich? Offensichtlich hat dein Vater eine ganze Menge Dinge getan, von denen du nie etwas gewusst hast. Oder an die du dich nicht erinnerst …
    »Cat?«, fragt Michael besorgt. »Redest du mit mir?«
    »Was?«
    »Komm, wir müssen uns beeilen. Dein Schrei war ziemlich laut.«
    Er zerrt mich in Richtung Tor, doch meine Blicke bleiben auf dem Gehenkten haften.

49
    W ährend Michael mich unter den Bäumen hindurch nach Brookwood zieht, muss ich an meinen Vater denken, der in meinem Traum über das Wasser läuft. Als ich aufgewacht bin, hatte ich das sichere Gefühl, dass er mir etwas sagen wollte. Mir helfen wollte. Mir das Geheimnis seines und meines Lebens anvertrauen. Doch vielleicht irre ich mich. Vielleicht hat er auch nur versucht, sich für etwas zu entschuldigen. Nicht wortwörtlich natürlich. Ich weiß, dass er nicht aus dem Reich der Toten mit mir kommuniziert oder so was. Es ist mein Unterbewusstsein, das diese Bilder erschafft. Und doch …
    »Ich … es tut mir Leid, dass ich ausgeflippt bin«, sage ich zu Michael. »Du musst nicht bei mir bleiben.«
    »Red keinen Unsinn«, entgegnet er. »Du musst jetzt wirklich nicht allein sein.«
    Wir werden es niemals bis Brookwood schaffen. Meine Beine fühlen sich an, als wären sie voller Sand, und die Luftfeuchtigkeit macht mir das Atmen schwer. »Ich muss mit meiner Mutter reden.«
    »Warum?«
    »Sie ist die nächste Verwandte meines Vaters. Ich weiß nicht, ob ich eine Genehmigung zur Exhumierung bekommen kann, wenn sie nicht einverstanden ist.«
    »Cat, du hast eben drei Polaroids und eine Skulptur gesehen und bist ausgerastet, und jetzt redest du davon, den Leichnam deines Vaters anzusehen? Nachdem er mehr als zwanzig Jahre in der Erde gelegen und sich zersetzt hat?«
    Ich erschauere. »Es wird bestimmt einfacher, als diese Bilder anzusehen.«
    »Cat …«
    »Was sonst kann ich tun, Michael? Ich muss weiterbohren, bis ich die Wahrheit aufgedeckt habe. Wenn ich das nicht tue, werde ich verrückt.«
    Er sieht mich voller Mitleid und Erbarmen an. »Ich glaube, du solltest dich mit Tom Cage unterhalten, bevor du den nächsten Schritt unternimmst.«
    »Dr. Cage?«
    »Ja. Erinnerst du dich, was er mir gesagt hat? Dein Dad hat ihn in ziemlich vieles eingeweiht. Ihm Geschichten aus dem Krieg anvertraut. Und Tom scheint große Stücke auf Luke gehalten zu haben. Ich glaube, du solltest dir auf jeden Fall anhören, was Tom zu sagen hat.«
    »Niemand beichtet seinem Hausarzt, dass er seine eigene Tochter missbraucht hat.«
    »Sei dir da nicht so sicher. In den alten Tagen waren Hausärzte fast so etwas wie Priester, ganz besonders hier unten im Süden. Der Hausarzt war die einzige Person, bei der sich gewisse Leute ausweinen konnten, ohne etwas befürchten zu müssen.«
    Ich bleibe stehen und sinke gegen den Stamm einer alten Eiche.
    »Was ist denn?«, fragt Michael.
    »Könntest du den Wagen holen?«
    Er studiert mich sekundenlang. Ich sehe das Gehirn des Arztes hinter seinen Augen, die mich aufmerksam untersuchen …
    »Versprichst du, hier zu warten, bis ich zurück bin?«
    »Natürlich. Worüber machst du dir Gedanken?«
    »Ich mache mir Gedanken, dass all der Stress eine manische Phase auslösen könnte. Wenn es so weit kommt, dann weißt du nicht mehr, was du tust. Und ich habe Angst, du könntest dich auf die eine oder andere Weise umbringen.«
    Ich rutsche am Baumstamm nach

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