Bisswunden
scheint nachzudenken. »Mr. Luke, meinen Sie?«
»Ja.«
Mose grinst breit und enthüllt vom Tabak gelbe Zähne. »Mr. Luke hatte immer ein freundliches Wort für mich, wenn wir uns begegnet sind. Manchmal hat er mir was von dem angeboten, was er gerade geraucht hat. Wenn Sie verstehen, was ich meine, Miss Catherine.«
»Ich verstehe.«
»Ich mochte den guten alten Luke, aber ich musste immer vorsichtig sein in seiner Nähe. Dr. Kirkland mochte Luke überhaupt nicht.«
Michaels Wagen ist inzwischen ganz nah. Er schlängelt sich zwischen den Bäumen hindurch wie ein Panzer, der Landminen umfährt. »Magst du die Insel, Mose?«
Er zuckt die Schultern. »Ich kannte damals nichts anderes, Miss Catherine. Heute würde ich nicht mehr dorthin zurückwollen. Ich mag mein Fernsehprogramm abends, und ich mag diesen Fluss nicht. Zu viele Leute sind in diesem Fluss ertrunken.«
»Kennst du jemanden, der im Mississippi ertrunken ist?«, frage ich.
»Ich hatte einen Cousin. Der Fluss hat ihn genommen.«
»Wie war sein Name?«
»Enos. Aber ich glaube, ein paar Jahre vorher ist auch schon ein Mädchen im Fluss ertrunken.«
»Glaubst du, dass die Insel ein verwunschener Ort ist?«
Mose blinzelt mich an, als versuchte er, irgendetwas in weiter Ferne zu erkennen. »Wie meinen Sie das, Miss Catherine?«
»Gibt es dort böse Dinge? Irgendetwas, das du vielleichtnicht erklären kannst, aber trotzdem deutlich spürst? Ich habe mich immer unwohl gefühlt, wenn ich dort war.«
Der alte Gärtner schließt die Augen. Nach einem Moment durchfährt ihn ein leichtes Erschauern. Dann öffnet er die Augen wieder und sieht mich an wie ein kleiner Junge. »Als ich jung war, haben die alten Leute immer erzählt, dass in der Nacht Mörder die Straßen unsicher machen, die aus dem Gefängnis ausgebrochen sind. Von Angola, wissen Sie? Dass diese Männer in der Nacht über den Zaun klettern, zur Insel rüberschwimmen und die Straße nach Kindern absuchen. Heut erscheint mir das alles wie ein Märchen, wie irgendwas, womit sie uns Angst machen wollten. Trotzdem, damals wollten viele Kinder nicht mehr auf die Straße, wenn es dunkel wurde. Manche wollten nicht mal tagsüber draußen spielen.«
»Warum nicht?«
Er zuckt erneut die Schultern. »Es war eben so. Keine Ahnung. Sie müssen schon jemand anderen fragen, wenn Sie den Grund wissen wollen. Ich sag Ihnen nur das … Ich hab eine Menge Verwandtschaft da unten auf der Insel, und ich bin seit bestimmt vierzig Jahren nicht mehr dort gewesen. Und jetzt, wo Sie mich fragen – nein, es ist mir egal, wenn ich nie wieder hinkomme.«
Als Michaels Wagen neben dem alten Gärtner hält, winkt Mose mir ein letztes Mal zu und schlendert zwischen den Bäumen hindurch davon. Bevor Michael das Seitenfenster heruntergelassen hat, ist Mose verschwunden. Er ist genau wie mein Vater, ein weiterer Geist von Malmaison.
Ich nehme Luke Ferrys alten grünen Seesack voller Geheimnisse an mich und steige in Michaels suv.
50
M ichael Wells und ich sitzen auf einem Ledersofa im privaten Büro von Dr. Tom Cage, der seit mehr als vierzig Jahren als Arzt für Allgemeinmedizin in Natchez niedergelassen ist. Bücherregale reihen sich an allen vier Wänden, einige gefüllt mit medizinischen Fachbüchern, andere mit Geschichten aus dem Bürgerkrieg. Auf Dr. Cages Schreibtisch stapeln sich die Krankenakten dreißig Zentimeter hoch, der Fluch eines jeden Arztes. Ein erst halb bemalter Zinnsoldat steht im Schatten der Akten, daneben eine Dose mit grauer Farbe. Genau wie wir scheint der Zinnsoldat auf das Eintreffen des Doktors zu warten.
Doch was meine Aufmerksamkeit jetzt fesselt und wovon ich seit unserem Eintreten kaum die Augen wenden konnte, ist der polierte weiße Schädel, der hinter Dr. Cages Schreibtisch im Regal als Bücherstütze fungiert. Die leeren Augenhöhlen starren mich in scheinbarem Spott an und erinnern mich daran, dass Nathan Malik tot ist, dass die Mordfälle in New Orleans weiter ungelöst sind und dass ich noch immer als Verdächtige gelte.
Seit ich die Polaroidfotos von den nackten Kindern im Seesack meines Vaters entdeckt habe, kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Stimmen, die mich so lange gequält haben, sind wieder da – ein säuselnder Hintergrund bösartiger Kommentare, die ich nicht zum Schweigen bringen kann. Beunruhigender noch – tief in mir scheint etwas zerbrochen zu sein. Eine Wunde wurde geschlagen, von der ich nicht sicher bin, ob sie jemals wieder heilen wird. Was
Weitere Kostenlose Bücher