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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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unten und setze mich auf den weichen Boden. Der Schmerz der über meinen Rücken schrammenden Rinde ist merkwürdig willkommen. »Bitte, Michael.«
    »Ich bin in zwei Minuten zurück.«
    Sobald er verschwunden ist, schütte ich den Inhalt des Seesacks meines Vaters vor mir aus. Der Playboy, die Karten, die Briefe, die Pflaumen, das Scharfschützen-Abzeichen, das Skizzenbuch, das Spiralalbum mit den Fotos. Ich halte den Atem an, als ich das Album aufschlage. Die Fotos stecken in Plastikfolien, um sie vor dem Vergilben zu schützen. Ich hatte noch nie im Leben mehr Angst davor, irgendetwas anzusehen. Wenn ich weitere Aufnahmen von Kindern finde, werde ich den Atem anhalten, bis ich ohnmächtig bin. Das ist mir zwar vorher noch nie gelungen, doch heute …
    Das erste Bild zeigt einen Hirsch mit weißem Wedel, einen zehnendigen Bock. Fast atme ich erleichtert aus, doch nur fast. Jedes Bild in diesem Album ist ein potenzieller Schrecken.
    Das nächste Foto zeigt ein Schwarzbären-Junges. Auf dem übernächsten ist eine Cottonmouth Mokassin abgebildet, die sich um eine Zypresse gewunden hat.
    Mein Herz droht vor Anspannung auszusetzen.
    Das nächste Foto zeigt einen nackten dunkelhäutigen Körper. Doch es ist kein Kind. Jedenfalls kein vorpubertäres Kind. Es ist Louise Butler, dreißig Jahre jünger als die Frau, mit der ich in dem kleinen Haus auf der Insel gesprochen habe. Sie kann nicht älter sein als achtzehn auf diesem Foto. Sie steht im Sonnenuntergang am Flussufer und blickt ohne jede Spur vonScham in die Kamera. Die Grazie und Ausstrahlung ihres nackten Körpers lässt Lola Falana auf den Playboy- Seitengewöhnlich aussehen.
    Ich blättere zum nächsten Foto um.
    Erneut Louise, erneut am Flussufer, diesmal im Profil vor dem Sonnenuntergang in einer Lotushaltung.
    Beim nächsten Bild wird mein Mund plötzlich trocken. Auf diesem Foto hat mein Vater einen Arm um Louises Taille geschlungen. Sie ist nackt, und er trägt nichts bis auf eine alte abgeschnittene Baumwollhose. Das Bild ist ein wenig schief, als hätte er die Kamera auf einen Baumstumpf gesetzt und mit einem Selbstauslöser fotografiert. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals so glücklich gesehen zu haben, wenn er mit meiner Mutter zusammen war.
    Das nächste Foto zeigt mehrere schwarze Kinder, die auf einer staubigen Straße spielen, doch sie sind alle bekleidet. Während ich durch das kleine Spiralbuch blättere, verschwimmen die Fotos zu einer Montage über das Leben auf der Insel. Nicht das privilegierte Leben, das ich als die Enkeltochter von Dr. und Mrs. Kirkland kennen gelernt habe, sondern das Alltagsleben der Schwarzen, die das ganze Jahr über dort leben. Ein Foto zeigt Daddy mit einem jungen Schwarzen – Jesse Billups mit einer Afrofrisur? – auf einer Veranda beim Gitarrespielen. Auf dem Geländer stehen Flaschen billigen Weins, und eine schwer gebaute schwarze Frau mit mächtigen Brüsten tanzt barfuß auf dem Boden. Daddy hat einen Flaschenhals über den dritten Finger gestülpt. Ich kann das durchdringende Klagen der Noten fast hören, während er den Slide über die Saiten zieht.
    Das letzte Foto zeigt mich.
    Ich sitze mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Boden der Scheune, fast die gleiche Haltung wie Louise in ihrer Lotusstellung, habe das Kinn in die Hände gestützt und starre mit großen runden Augen, die ganz genauso aussehen wie die Augen meines Vaters, in die Linse. Ich sehe auf diesem Bildaus, als wäre ich mehr im Frieden mit mir selbst, als ich mich jemals in meinem Leben gefühlt habe.
    Ich bin ungefähr zwei Jahre alt.
    Was ist danach mit mir passiert? Was hat den Frieden aus diesen Augen genommen? Wer hat ihn mir genommen? Die Person, die dieses Bild geschossen hat?
    Mit einem langen, erleichterten Seufzer lasse ich das Album fallen. Es kommt neben den getrockneten Pflaumen auf dem Draht zu liegen. Es hat etwas Abstoßendes an sich, Nahrung so lange in einem Seesack unter den Dielen aufzubewahren. Die Pflaumen sehen widerlich aus, als wären sie aus einem anderen Grund aufbewahrt worden, der den Horizont normaler menschlicher Wesen übersteigt. Ein Halsband vielleicht, irgendetwas in der Art, womit ein Landbewohner versuchen würde, Vampire zu vertreiben?
    »Miss Catherine? Sind Sie das?«
    Ein Schwarzer in fleckiger, schmutziger Khaki-Kleidung ist zwischen den Bäumen aufgetaucht. Es ist Mose, der Gärtner. Nach so vielen Jahren auf Malmaison bewegt er sich zwischen den Bäumen wie ein Geist. Er und Daddy

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