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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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zerbrochen ist, denke ich, ist mein Glaube. Meine verzweifelte Hoffnung, dass mein Vater trotz allem, was mein Großvater mir erzählt hat, mir all diese schrecklichen Dinge nicht angetan hat.
    Doch Bilder lügen nicht.
    Michael hat getan, was er konnte, um meine Angst zumildern. Obwohl er glaubt, dass es ein Fehler wäre, den Leichnam meines Vaters zu exhumieren, hat er während der Fahrt hierher seinen Anwalt angerufen und sich erkundigt, was erforderlich ist, um einen derartigen Antrag zu stellen. Es gibt in Mississippi kein Gesetz bezüglich der Exhumierung von Leichen – tatsächlich benötigt man nicht einmal eine Genehmigung. Das Einzige, was erforderlich ist, ist die Anwesenheit eines lizenzierten Totengräbers, der dem Vorgang als Zeuge beiwohnt. Als Michael daraufhin beim Totengräber angerufen hat, wurde ihm erklärt, dass dieser ohne Gerichtsbeschluss keiner Exhumierung beiwohnen will. Michael ist der Meinung, dass ein solcher Beschluss vom Friedensrichter ohne Anhörung zu erhalten ist – doch dazu ist eine eidesstattliche Aussage seitens des nächsten Verwandten erforderlich, in welcher der Grund für die beabsichtigte Exhumierung dargelegt wird.
    Also meiner Mutter.
    »Hi, Michael. Tut mir Leid, dass ich Sie habe warten lassen.« Ein großer Mann mit weißem Haar und einem weißen Bart marschiert in den Raum und schüttelt Michael die Hand wie einen Pumpenschwengel. Dann wendet er sich zu mir um und lächelt. »Und Sie sind Catherine Ferry?«
    Ich stehe auf und reiche Dr. Cage die Hand. »Bitte nennen Sie mich Cat.«
    Er nimmt meine Hand und schüttelt sie sanft mit arthritischen Fingern. »Und ich bin Tom.«
    Er geht hinter seinen Schreibtisch und nimmt Platz. Aus der Brusttasche seines weißen Laborkittels ragen mehrere Zungenspatel und eine dicke Zigarre, und um seinen Hals hängt ein rotes Stethoskop. Es ist offensichtlich, dass Tom Cage die Art von Medizin praktiziert, die für meinen Großvater seit vielen Jahren unter seiner Würde war.
    Dr. Cage nimmt eine Diät-Cola aus einem Minikühlschrank hinter dem Schreibtisch, öffnet die Dose und nimmt einen langen Schluck. Dann atmet er zufrieden durch, stellt die Dose ab und richtet den Blick auf mich.
    »Luke Ferry. Was möchten Sie wissen?«
    »Ich bin nicht sicher. Alles, woran Sie sich erinnern.«
    »Das ist eine Menge. Ich habe Luke als Knaben behandelt, und auch seine Eltern, bevor sie starben, und den Onkel, bei dem Luke schließlich aufgewachsen ist. Wofür interessieren Sie sich am meisten?«
    Ich blickte zu Boden, wo der grüne Seesack meines Vaters zwischen meinen Füßen liegt. »Vietnam«, sage ich leise. »Die White Tigers.«
    Dr. Cages Augenlider flattern. »Sie wissen bereits mehr, als ich angenommen hatte. Cat … Ihr Vater hat Schießen gelernt, um Essen auf den Tisch seiner Familie zu bringen. Er hat bereits als Knabe besser geschossen als die meisten Männer nach einem Leben voller Übung. Im Krieg wurde er gezwungen, diese Begabung zu einem anderen Zweck einzusetzen. Man machte ihn zu einem Scharfschützen. Luke hatte stets gemischte Gefühle deswegen. Auf der einen Seite war er stolz auf seine Professionalität …« Dr. Cage deutet auf seine Bücherregale. »Wie Sie unschwer sehen können, ist mein Hobby Militärgeschichte. Ich habe in Korea gedient. Wussten Sie, dass in Vietnam durchschnittlich fünfzigtausend Schuss Munition für einen getöteten feindlichen Soldaten aufgewendet wurden?«
    »Fünfzigtausend!«, sagt Michael neben mir. »Das kann unmöglich sein!«
    »Und doch ist es so«, fährt Dr. Cage fort. »Einer der Gründe, warum wir den Krieg verloren haben. Vielleicht möchten Sie raten, wie viel Schuss die Scharfschützen von Army und Marines durchschnittlich benötigt haben, um einen Gegner zu töten?«
    Michael schüttelt den Kopf. »Einer?«
    »Eins Komma drei neun. Diese Jungs waren verdammt gut in ihrem Job. Doch diese Art zu töten ist viel schwerer, als das Feuer gegen einen Mann zu erwidern, der einen zu töten versucht. Diese Art zu töten geschieht kaltblütig, durch ein Zielfernrohr hindurch, das den Gegner auf das Zehnfachevergrößert. Man beobachtet ihn, wie er eine Zigarette raucht oder gegen einen Baum pinkelt, und dann schießt man ihm den Kopf weg. Erinnern Sie sich, wie John Kennedys Kopf in den Filmaufnahmen von Zapruder explodiert ist? Genau das sieht ein Scharfschütze bei fast jedem Schuss. Wenn man erst einmal Bilder wie diese im Kopf hat, gehen sie nie wieder weg.«
    Dr. Cage nimmt

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