Bisswunden

Winseln. »Wer hat dir nur diesen Unsinn in den Kopf gesetzt? War es dieser Psychiater, mit dem Ann sich getroffen hat? Dieser Mann, der ermordet wurde?«
    »Woher weißt du von ihm?«
    »Ich habe mit dem fbi gesprochen, Liebes. Ein Agent Kaiser hat mich angerufen. Er war sehr sympathisch und obendrein sehr besorgt wegen dir.«
    Ein Gefühl von Bedrohung lässt mir die Haare im Nacken zu Berge steigen. »Wann war das?«
    »Hör mal, Cat, es ist nichts, weswegen du dich fürchten müsstest.«
    »Hast du Kaiser erzählt, dass ich in der Stadt bin?«
    »Ich habe niemandem irgendwas erzählt, Baby. Daddy hat gesagt, unsere Familienangelegenheiten gehen diese Leute nichts an.«
    Jesses  … »Hat Großvater ebenfalls mit Kaiser gesprochen?«
    »Ich glaube schon, ja.«
    »Mom, ich hab dir sehr viel zu erzählen, aber die Zeit ist einfach zu knapp. Ich hatte mein Leben lang Probleme mit dem Sex. Mit Männern, mit Alkohol … mit vielen Dingen.«
    Sie macht einen Schritt auf mich zu, und die Erleichterung ist unübersehbar in ihrem Gesicht. Jetzt verstehe ich dein Problem, denkt sie. »Das ist nicht deine Schuld, Honey. Jeder, der seinen Vater so verliert, wie es dir ergangen ist, muss Probleme haben.«
    »Nein! Das ist es nicht! Ich dachte immer, das wäre es, aber das war es nicht.«
    »Baby, natürlich ist es das! Du hast so viel Schmerz erlitten …«
    »Mom, bitte! Du weißt so vieles nicht. Großvater hat versucht, dich auf die gleiche Weise zu schützen, wie er mich zu schützen versuchte. Nur, dass er keine von uns wirklich beschützt hat.«
    Die Angst kehrt in ihr Gesicht zurück. »Wovon redest du?«
    »Ich hatte gehofft, dass ich es dir nicht erzählen muss, aber es gibt offensichtlich keinen anderen Weg. Mom, die Nacht, als Daddy erschossen wurde … es gab keinen Eindringling auf Malmaison.«
    »Aber natürlich! Ich habe dir doch gesagt …«
    »Nein«, widerspreche ich entschieden. »Du hast niemanden gesehen, und es gab nie jemanden. Großvater hat es mir selbst gesagt. Er hat diesen Eindringling erfunden, um dir nicht erzählen zu müssen, was sich in Wirklichkeit zugetragen hat.«
    »Was sich in Wirklichkeit zugetragen hat?«, wiederholt sie meine Worte, und ihre Augen sind plötzlich so misstrauisch wie die eines ängstlichen Hundes.
    »Ja. Großvater hat gesagt, er hätte Daddy dabei überrascht, wie er mich in meinem Bett in jener Nacht sexuell missbraucht hat. Sie haben miteinander gekämpft, und Großvater hat Daddy erschossen.«
    Alles Blut ist aus dem Gesicht meiner Mutter gewichen. Sieist totenblass. Es grenzt an ein Wunder, dass sie noch nicht ohnmächtig geworden ist.
    »Ich weiß, das ist ein Schock, Mom. Aber genau das hat Großvater mir erzählt.«
    »Ich glaube dir kein Wort!«
    Ich zucke die Schultern. »Ich sage die Wahrheit. Allerdings bin ich nicht mehr sicher, ob Großvater mir die Wahrheit gesagt hat. Es ist gut möglich, dass es sich genau umgekehrt abgespielt hat – dass Daddy Großvater dabei überrascht hat, wie er mich missbrauchte. Und Großvater hat Daddy getötet. Das will ich herausfinden. Nicht, wer wen getötet hat, sondern wer mich missbraucht hat. Wenn es Großvater war, hat er mit Ann wahrscheinlich das Gleiche getan …«
    Meine Mutter hat die Hände über die Ohren geschlagen wie ein kleines Kind, doch ich rede weiter. »Ann hat sich in der Klinik das Leben genommen, Mom, und sie hatte ihre alte Stoffschildkröte bei sich. Thomas the Turtle. Wusstest du das? Wusstest du, dass sie Thomas dabeihatte?«
    »Das hat sie wegen ihrer Unfruchtbarkeit getan«, sagt Mom beinahe trotzig. »Sie war unfruchtbar wegen der Blinddarmoperation, die dein Großvater auf der Insel durchführen musste. Er hat es selbst mehrmals gesagt, wenn ich mich recht entsinne. Die Infektion hat deine Tante Ann sterilisiert.«
    »Ich bin nicht einmal sicher, ob es tatsächlich eine Appendektomie war, Mom. Ich fürchte, dass Ann möglicherweise schwanger war.«
    »Zehnjährige Mädchen werden nicht schwanger! Mein Gott, das allein sollte genügen, um dir zu zeigen, wie verrückt deine Vorstellungen sind!«
    »Vielleicht war sie nicht schwanger«, räume ich ein, während ich mir die leidenschaftslosen Meinungen von Michael Wells, Hannah Goldman und Tom Cage ins Gedächtnis rufe. »Trotzdem, irgendetwas sehr Schlimmes ist mit Ann in Großvaters Klinik auf der Insel passiert. Und irgendwo tief in deinem Innern weißt du es.«
    Endlich wird Mom bewusst, wie dümmlich sie aussehen muss, und sie lässt