Bisswunden
müssen davon ausgehen, dass er seine Arbeit versteht und alles richtig gemacht hat.«
»Ich mag es nicht, von irgendetwas auszugehen.«
Ich sehe zu Sean und bemühe mich, meinen Tonfall sachlich zu halten. »Ich auch nicht. Es war eine Annahme, die mich daran gehindert hat, schon gestern dahinterzukommen, wer der Killer ist. Als Kaiser mir diesen Laborbericht gezeigt hat, war das Fehlen dieses Bakteriums wie ein Signal. Mir gingen mehrere Möglichkeiten durch den Kopf – beispielsweise jemand, der Antibiotika nimmt –, doch ich war zu diesem Zeitpunkt völlig abgelenkt. Ich hatte gerade erfahren, dass meine Tante Selbstmord begangen hat, und ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, aus dem fbi-Gebäude zu fliehen. Ich wusste, dass der Speichel von jemandem ohne Zähne stammen könnte, doch die Möglichkeit, dass es sich um ein Baby handelt … Ich habe sie automatisch ausgeschlossen. Ich meine, wir haben es hier mit Serienmord zu tun. Das Bild eines sechs Monate alten Babys passt einfach nicht dazu. Jetzt komme ich mir wie eine Idiotin vor. Ich war in den letzten beiden Tagen total von der Rolle. Alkoholentzug, keine Medikamente, Valium …« Schwanger, füge ich im Stillen hinzu. »Ich musste zuerst dieses sabbernde Baby beim Beerdigungsinstitut sehen, um eins und eins zusammenzuzählen.«
»Und das hier ist das Ergebnis?«, fragt Sean und tippt auf das Foto in der Mitte der Reihe. Es zeigt eine zweiundzwanzigjährige junge Frau mit dunklen Haaren. »Evangeline Pitre?«
»Sie ist es, Sean.« Evangeline Pitre ist die Tochter von Quentin Baptiste, dem ermordeten Detective des Morddezernats – Opfer Nummer sechs.
»Diese zufällige Begegnung beim Beerdigungsinstitut hat in meinem Verstand die Assoziation zwischen Babys und Speichel hergestellt. Danach war es nur noch eine Frage der Elimination. Ich wusste, dass keine der weiblichen Verwandten der Opfer Söhne hatten, die jünger als achtzehn Monate waren. Doch Kaiser hat mir erzählt, dass eine von Baptistes Töchtern in einer Kindertagesstätte arbeitet. Die einzige Frage war, ob diese Tagesstätte auch männliche Babys aufnimmt, die weniger als sechs Monate alt sind – das Alter, wenn die Milchzähne durchbrechen. Ich habe es mir bestätigen lassen, nachdem ich von der Insel losgefahren bin, doch ich wusste es schon vorher, Sean. Ich wusste es einfach.«
»Ich bin längst nicht überzeugt, dass diese junge Frau alle sechs Morde allein begangen hat«, sagt Sean.
Ich studiere das Foto und suche nach Hinweisen, die eine Fähigkeit zum Mord verraten könnten – als wären solche Dinge sichtbar. Evangeline Pitre besitzt tief liegende, dunkle Augen, die in starkem Kontrast zu ihrer hellen, teigigen Haut stehen. Sie ist nicht unattraktiv, doch ihr Gesicht strahlt auch zurückhaltende Vorsicht aus, wie eine streunende Katze, die mit einem Tritt rechnet, bevor sie ein Stück Futter bekommt.
»Ihr Vater war Cop beim Morddezernat«, sage ich. »Wir können nicht wissen, welche Fähigkeiten und Kenntnisse sie möglicherweise besitzt.«
»Und du glaubst, diese Frau hat jeden dieser Kinderschänder ermordet? Für die anderen? Um die Täter zu bestrafen?«
»Es könnte genauso einfach sein, ja. Oder auch nicht. Pitre könnte sie ermordet haben, ohne dass jemand anders in derGruppe wusste, was sie tat. Allerdings sagt mein Gefühl mir etwas anderes.«
Sean verzieht das Gesicht zu einer ironischen Grimasse. » Mein ›Gefühl‹ sagt mir, dass Nathan Malik den ganzen verschlagenen Plan entwickelt hat. Pitre hat vielleicht den Speichel besorgt, den sie in den Bisswunden hinterließen. Vielleicht hat sie sogar den Abzug betätigt, falls sie schießen gelernt hat. Doch wie ist sie auf den Gedanken gekommen, einen menschlichen Schädel zu benutzen, um die Bisswunden zu erzeugen? Nein, ich halte es für ausgeschlossen, dass Evangeline Pitre sich ein Szenario ausgedacht hat, wie wir es an den Tatorten angetroffen haben. Verdammt, sie hat nicht mal die Highschool abgeschlossen, Cat.«
»Richtig. Das muss aber nicht heißen, dass Malik dahintergesteckt hat. Es könnte jede beliebige andere Frau aus dieser Gruppe gewesen sein. Eine einzelne oder alle zusammen.«
»Du vergisst Margaret Lavignes Abschiedsbrief«, erinnert mich Sean. »›Möge Gott mir vergeben. Ein unschuldiger Mann ist tot. Bitte sagen Sie Dr. Malik, dass er der Sache ein Ende machen soll.‹ Malik hat diese Frauen kontrolliert, Cat. Er hat sie gesteuert wie Marionetten und ihre Emotionen für seine
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