Bisswunden
eine objektive Entscheidung zu fällen.«
Einmal mehr wiederhole ich die Worte von Nathan Malik. »Du hast Recht. Aber bei einer solchen Sache sollte niemand objektiv sein. Es ist das schlimmste Verbrechen auf der Welt, Sean. Das hat Malik mir bei unserer ersten Begegnung gesagt, und ich weiß, dass es stimmt. Die Opfer sind unschuldige Kinder, die nicht den Hauch einer Chance haben, sich gegen die Täter zu schützen.«
Sean hält das Foto von Evangeline Pitre hoch. »Das hier ist kein hilfloses Kind. Das hier ist eine zweiundzwanzig Jahre alte Frau!«
»Du redest in chronologischen Maßstäben.« Noch immer Maliks Worte. »Du hast ja keine Ahnung, was hinter der Stirn dieser Frau vorgeht. Vielleicht ist sie im Kopf niemals über das Alter von sechs Jahren hinaus erwachsen geworden. Nicht emotional jedenfalls.«
Mit einem Stöhnen erhebt Sean sich vom Tisch und nimmt sich ein Bier aus meinem Kühlschrank. Als ich die Flasche mit dem kondensierten Beschlag sehe, regt sich in mir zum ersten Mal seit vielen Stunden das Verlangen nach Alkohol.
»Ich hätte meine Karriere fast in die Scheiße geritten, Cat«, sagt er und wischt sich mit dem Ärmel über den Mund. »Wegen dir und mir. Wenn wir jetzt tun, was du möchtest, und dabei erwischt werden … dann war es das für mich.«
Ich starre ihn wortlos an. »Du hast deine Entscheidungen aus freien Stücken gefällt, Sean. Du selbst hast die Regelngebrochen oder dich darüber hinweggesetzt. Ich habe dich nie darum gebeten. Ich werde heute Abend mit Evangeline Pitre sprechen, mit dir oder ohne dich. Aber lass dich gewarnt sein, Sean. Falls du versuchst, mir einen Strich durch die Rechnung zu machen – falls du die Sonderkommission alarmierst, bevor ich mit Sicherheit weiß, dass die Pitre mir die Wahrheit erzählt hat –, dann gehe ich zu deiner Frau und erzähle ihr alles, was wir je gemacht haben. Und alles, was wir je geplant hatten obendrein.«
Er wird blass. »Das würdest du nicht tun.«
»Sieh mich an, Sean. Ich werde es tun.«
Er starrt mich an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen.
»Du hast keine Ahnung, wie stark die Emotionen sind, mit denen wir es hier zu tun haben«, sage ich. »Ich weiß, wozu eine Frau imstande ist, die als Kind missbraucht wurde, okay? Und bevor wir Evangeline Pitre den Wölfen vorwerfen, möchte ich verstehen, was passiert ist.«
Er leert sein Bier in einem einzigen tiefen Zug und wirft die Flasche in den Abfall. »Keine Rückendeckung also«, sagt er schließlich. »Dümmer geht’s wirklich nicht.«
Eine Woge der Erleichterung durchflutet mich. Er wird mitmachen. »Wenigstens ist Malik tot«, sage ich, während ich aufstehe. »Falls er Pitres Komplize war, wie du annimmst, gibt es eine Bedrohung weniger, wegen der du dir Sorgen machen musst.«
Sean schlüpft in sein Jackett und rückt das Schulterhalfter zurecht. Dann bückt er sich und zieht einen kleinen Revolver aus einem Unterschenkelhalfter. Er überprüft die Trommel. »Und wenn es eine dieser anderen Frauen ist? Oder alle zusammen?«
»Evangeline Pitre lebt allein. Wir haben mitten in der Woche. Sie muss morgen zur Arbeit, und sie rechnet nicht mit irgendetwas. Wir verschaffen uns gewaltsam Zutritt, schüchtern sie ein und zeigen ihr dann einen Ausweg.«
»Und falls sie jemanden bei sich hat?«
»Wir nehmen die Fotos mit. Falls wir eine der anderen Frauen erkennen, gehen wir trotzdem rein. Du hast deine Glock, und ich habe deinen Ersatzrevolver in der Handtasche. Uns wird nichts geschehen.«
»Wie erkläre ich deine Anwesenheit?«
»Auf die gleiche Weise wie früher auch, wenn du mich zu Verhören mitgenommen hast.«
Sean schüttelt den Kopf, doch um seine Mundwinkel spielt die Andeutung eines Lächelns. »Scheiße, wir waren ziemlich verrückt, was?«
»Ganz sicher. Aber wir haben auch eine Reihe von Killern zur Strecke gebracht.«
Er nickt. »Das haben wir.«
»Und das werden wir heute Abend wieder. Nur nicht ganz so, wie wir es früher gemacht haben. Diesmal geht es nicht um den Nervenkitzel oder Beförderungen oder auch nur persönliche Befriedigung. Diesmal geht es um Gerechtigkeit.«
Er hebt eine Augenbraue. »Du bist der Meinung, dass es an dir liegt, Gerechtigkeit walten zu lassen?«
»Diesmal ja.«
Sean reicht mir seinen Ersatzrevolver, eine Smith & Wesson Featherweight .38. »Vier Schuss in der Trommel, eine leere Kammer unter dem Hammer.«
Ich nicke, doch ich sage nichts.
»Könntest du auf Evangeline Pitre schießen, wenn es sein
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