Bist du mein Kind? (German Edition)
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„Warum bist du noch hier, warum gehen meine Augen nicht auf und warum bin ich angezogen?“
Es kommt eine seiner typischen Antworten auf drei gleichzeitig gestellte Fragen:
„Urlaub, zugeschwollen, so eingeschlafen“.
Aha. Er hat sich Urlaub genommen, meine Augen sind vom Heulen zugeschwollen und ich bin gestern Abend wahrscheinlich vor Erschöpfung einfach eingeschlafen und da wollte er mich nicht mehr wecken.
„Die Kinder?“ frage ich ebenso knapp.
„Schule“, antwortet er.
Als er sich erhebt, sehe ich, dass er auch angezogen ist. Sicher ist er heute Morgen aufgestanden, hat Frühstück für die Kinder gemacht und sie zur Schule gebracht.
Ich schaue auf die Uhr. Zehn vor acht. Passt genau von der Zeit her.
Wortlos kommt er wieder ins Schlafzimmer und gibt mir zwei Kühlkissen. Ich nehme sie an und lege sie mir auf die verquollenen Augen.
So bleibe ich eine gefühlte Ewigkeit liegen und meine Gedanken schweifen Richtung Maxi. Und schon wieder bricht das Elend über mir zusammen. Da ich aber nicht schon wieder heulen will und mein Verstand mir sagt, dass mir das letztendlich auch nicht hilft, gebe ich diesem Impuls nicht nach.
„Ist das Frühstück fertig?“ rufe ich Richtung Wohnzimmer.
„Du kannst dich jederzeit an den Tisch setzen!“ ruft mein Mann zurück.
Ich schäle mich aus dem Bett und so wie ich bin, verquollen, verschwitzt, zerknautscht in den gleichen Klamotten wie gestern, setze ich mich an den Tisch.
Wolfgang hat liebevoll ein Frühstück gemacht, das es an nichts fehlen lässt.
Schweigend frühstücken wir, aber es ist nicht unangenehm.
Irgendwann sagt Wolfgang: „Wir wissen ja, wo er ist. Er ist nicht mehr verschollen. Sobald wir von Jean-Marie hören, können wir etwas unternehmen. Wir müssen dann nur überlegen, was genau.“
Ich will davon nichts hören, denn für mich ist klar, dass wir ihn nach Hause holen.
ICH hatte ihn im Bauch und ICH habe ihn geboren. Also gehört er mir.
Aber das werde ich ihm zu gegebener Zeit nochmal erklären.
„Geh‘ du nur ins Bad, ich mach hier schon alles fertig.“
Ich sehe ihn dankbar an und verschwinde erst Mal für eine halbe Stunde im Badezimmer.
Als ich fertig bin, fängt für mich eine neue Zeitrechnung an. Der erste Tag ohne Maxi und das Warten auf das gentechnische Ergebnis.
Was soll ich tun, damit die Zeit schneller vergeht? Ich habe keinen Plan.
2010 TAG 10 Zuhause
Die nächsten Tage verlaufen, wie alle Tage. Kinder in die Schule, arbeiten gehen, Haushalt, Sport, äußerlich alles wie immer. Innen brodelt es, aber ich habe es gut unter Kontrolle.
Die Kinder sind unnatürlich vernünftig. Sie streiten sich nicht, sie lernen für die Schule, treffen keine Freunde nachmittags und machen mit mir oberflächlichen Smalltalk. Ich habe nicht mehr nachgebohrt, was Wolfgang ihnen erklärt hat. Ich werde mit ihnen sprechen, aber im Moment kann ich nicht.
Es ist inzwischen Freitag und wir haben eine Mail von Maxi bekommen, in der er uns mitteilt, dass er gut zuhause angekommen ist und dass es ihm bei uns sehr gefallen hat.
„Seine Eltern“ haben uns auch geschrieben und sich bei uns bedankt, dass es ihm so gut gegangen ist und ob wir sie nicht in der Vendée besuchen wollen. Und ob! Aber ihr wisst ja noch nicht, warum!
Als wir am Abend auf der Terrasse sitzen, weil es noch so schön warm ist, klingelt das Telefon. Ich zucke zusammen und mein Herz fängt an zur rasen. Wolfgang springt auf und reißt den Apparat ans Ohr.
„Hallo Jean-Marie“, sagt er und mein Puls steigt auf ungefähr zweihundert. Wortlos hört er zu und nickt nur ein paar Mal mit dem Kopf. Dann macht er eine Geste, die ich zuerst nicht wahr nehme und die mich dann fast umhaut.
Er macht das Zeichen „Daumen nach oben“, und ich weiß, dass ich Recht hatte, dass meine Gefühle mich nicht getäuscht haben und dass Laurent mein Sohn Maximilian Reiter ist.
Und wieder fange ich an zu heulen. Ich kann nicht aufhören. Es muss jetzt alles raus.
Meine Gedanken fahren Achterbahn.
Wie von Geistern gerufen stehen meine beiden Söhne vor mir und sehen mich erwartungsvoll an.
Ich kann nicht reden. Ich kann nur heulen. Neun Jahre aufgestaute Gefühle müssen raus.
Wolfgang hat das Gespräch beendet und kehrt zurück auf die Terrasse.
„Kinder“, sagt er ganz ruhig, „Kinder, wir haben euren Bruder zurück. Laurent ist euer Bruder. Wie ich euch am Montag schon gesagt hatte. Jetzt wissen wir es genau. Nun müssen wir überlegen, was wir
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