Bist du mein Kind? (German Edition)
wahnsinnig zu werden oder einem Nervenzusammenbruch zum Opfer zu fallen. Und da das nicht geht, muss ich eben stark sein.“
„Ich bewundere Sie für Ihre Haltung. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Frau und ich dazu in der Lage wären. Aber vielleicht haben Sie ja Recht und es sind die schlimmsten Momente im Leben, die einen am stärksten machen.“
„Das kann ich Ihnen vielleicht hundertprozentig beantworten, wenn das Ganze hier ausgestanden ist.“
Inzwischen sind wir doch wirklich wieder am Auto angekommen. Hatte Jean-Marie den Weg mit Steinen markiert?
Nachdem wir eingestiegen sind, verfallen wir in Schweigen. Der Weg zur Villa kommt mir unendlich weit vor.
Ich kann überhaupt nichts mehr sehen, weil es inzwischen fast dunkel geworden ist. Straßenlaternen gibt es hier draußen anscheinend auch nicht. Das einzige, was hier leuchtet, sind die Autoscheinwerfer.
Plötzlich taucht in der Dunkelheit der Umriss einer kleinen Kate auf. Das soll eine Villa sein?
Romain macht das Licht am Auto aus und hält an. Wir steigen aus. Diesmal alle gemeinsam. Die Regeln, wer wann aussteigen darf, habe ich noch nicht verstanden. Aber das kann ja noch kommen.
Statt, wie von mir erwartet, irgendwelche geheime Klopfzeichen an der Tür abzugeben, klingelt Jean-Marie einfach.
Eine ältere Frau öffnet die Tür. Sie sieht uns an und macht die Tür ganz weit auf. Wir treten ein und sie nickt mir freundlich zu. Ich lächle sie an. Als sie jedoch nach meinem Rucksack greift, weiche ich zurück. Über die Schulter sagt Jean-Marie: „ Du kannst ihr deine Tasche ruhig geben. Sie wird dafür sorgen, dass sie nicht verloren geht.“
Zögernd überlasse ich meinen Rucksack der Frau. Mein Handy und mein Portemonnaie habe ich sowieso in meinen Jeanstaschen versenkt. Aber Maxis Sachen sind in dem Rucksack. Bald werde ich sie brauchen. Wenn Jean-Marie sagt, dass sie darauf aufpasst, werde ich das mal glauben.
Ich sehe mich um. Wir stehen in einer kleinen Diele, die in mehrere Räume führt. Romain schiebt uns ins Wohnzimmer. Es ist eingerichtet wie in den siebziger Jahren. Die Couch ist mit orangefarbenem Cordstoff bezogen. Hier sitzen einige Männer rum. Romain begrüßt alle mit einem freundlichen Händedruck. Es scheinen seine Leute zu sein. Sie überwachen wahrscheinlich die Villa. Also muss ich sie eigentlich sehen können. Kann ich aber nicht. Wieso nicht? Theoretisch muss dort doch auch Licht sein, wenn die Kinder da gefangen gehalten werden.
„Wo ist das Haus?“ frage ich Jean-Marie.
Er packt mich an den Schultern, dreht mich zu einem Monitor, auf dem etwas flimmert, zeigt mit dem Finger drauf und sagt: „Da“.
Ich strenge mich an und versuche auf dem Bild etwas zu erkennen. Langsam gewöhnen sich meine Augen an den Bildschirm. Es sieht ein bisschen so aus, wie ein Ultraschallfoto von einem Baby. Das kann auch nur die Mutter erkennen. Auf dem Schirm erscheint ein Umriss von einem Haus. Mit vielen kleinen Vordächern und an jeder Hausecke ein Türmchen. Allerdings sehe ich keine Fenster.
„Wo sind die Fenster?“ frag ich über die Schulter.
„Hinter den Rollläden“, kommt die lakonische Antwort von Jean-Marie.
Deswegen kann ich keine Fenster erkennen. Und kein Licht. Bei dem Gedanken, dass mein kleiner Sohn dort drüben in dem Haus ist und dass ich nicht zu ihm kann, zieht sich wieder mein Brustkorb zusammen und ich kann schon wieder nicht atmen. Anscheinend sieht Jean-Marie, was mit mir los ist.
Er geht mit großen Schritten in die Diele und kommt mit meinem Rucksack zurück. In der vorderen Tasche ist mein Notfallpaket. Ich schließe die Augen und versuche mich zu entspannen, so wie ich das beim Asthma-Training gelernt habe. Es scheint zu funktionieren. Meine Bronchien krampfen nicht. Erleichtert atmet Jean-Marie auf. Den Rucksack drückt er wieder der Frau in die Hand. Typisch Mann.
„Ich möchte so gerne zu ihm“, flüstere ich nur.
„Ich weiß das. Aber es geht nicht. Keine Angst, es sind nur zwei bis drei Tage, dann ist der Alptraum hier vorbei. Und solange passiert Maxi nichts. Ich weiß das genau, das läuft immer gleich. Ich werde dir nicht die Einzelheiten erklären, warum das so ist. Sonst drehst du hier gleich durch. Glaub mir einfach. Klingt abgedroschen, das verstehe ich.
Aber so ist die Situation. Wir kriegen das hin.“
Er steht ganz nah hinter mir. Ich kann ihn fast spüren. Trotzdem beruhigen mich seine Worte nicht. Will ich die Einzelheiten wissen? Nein. Nein. Oder doch? Ich will doch
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