Bist du mein Kind? (German Edition)
zu Jean-Marie. Als wäre das eine Aufforderung erklärt Jean-Marie:
„Also, ich war draußen bei der Fabrik. Es ist ruhig. Wir haben den Zugang zum Tunnel untersucht. Er ist von innen verriegelt. Wir haben fünf Leute dort gelassen, falls sich hier noch etwas tut. Was ich aber nicht glaube. Wir konzentrieren uns jetzt auf die alte Villa.
Unser gesamtes Team ist vor Ort und auch deine Leute sind da, Romain. Jetzt heißt es warten, bis die Übergabe stattfindet. Phillipe, willst du uns begleiten oder hast du andere Pläne?“
Phillipe zögert.
„Ich werde Girardeaut einen Besuch im Gefängnis abstatten. Chloé begleitet mich. Ich komme später zur Villa.“
Romain und Jean-Marie stehen auf. Ich weiß nicht so recht, was ich tun soll. Zögernd stehe ich auch auf.
Als die beiden zur Tür gehen, folge ich ihnen langsam. An der Tür dreht sich Romain um und macht mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Jetzt weiß ich wenigstens woran ich bin. Schnellen Schrittes bin ich bei ihnen und wir verlassen gemeinsam das Gebäude.
Im Auto entwickelt sich ein Gespräch, das die beiden Herren allerdings auf Französisch führen.
So kann ich ihnen nicht wirklich folgen. Ich höre nur Fetzen, die ich aber nicht sinnvoll zusammen fügen kann. Meine Gedanken schweifen ab. Ich sehe auf die Uhr. Einundzwanzig Uhr dreißig. Wie schnell die Zeit vergangen ist. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Ich weiß noch nicht mal, welcher Tag heute ist.
Wir steuern auf ein Gelände zu, das aussieht wie eine alte Industrieanlage. Alles ist dunkel, aber man kann die Umrisse von Schornsteinen und Eisenanlagen sehen.
Stromkabel hängen herunter.
Wir fahren durch ein nicht mehr vorhandenes Tor. Mit dem Auto durchqueren wir eine Fabrikhalle und parken es hinter Eisenschrott oder was immer das auch ist. Ich kann es im Dunkeln nicht erkennen.
Als ich aussteigen will, hebt Jean-Marie die Hand. Ich warte. Zuerst steigt Romain aus, dann Jean-Marie. Anschließend darf auch ich das Fahrzeug verlassen.
Nachdenklich folge ich den beiden Männern. Es geht durch riesige Hallen und über leere Plätze. Es schallt und stinkt. Seltsame Geräusche, die ich nicht zuordnen kann. Die Luft fühlt sich muffig an. Unsere Schritte finde ich ziemlich laut, aber die Herren Polizei scheint das nicht zu stören.
Vor einer verrosteten Eisentür bleiben wir stehen. Romain drückt die Klinke herunter und die Tür öffnet sich leise. Geht das, in dem Zustand?
Wir durchschreiten eine Wand aus Fäden. Was die mal bedeutet haben, ist mir völlig schleierhaft. Über Eisentreppen und zerbröckelte Betonstufen geht es rauf und runter, bis ich die Orientierung verloren habe. Vor einer weiteren Tür bleiben wir endlich stehen. Jean-Marie zeigt auf die Klinke.
„Mach auf!“. Er spricht in normaler Lautstärke. Ja muss er denn nicht flüstern, damit man uns nicht bemerkt? Ich zögere.
Jean-Marie drückt die Klinke herunter. Nichts passiert.
„Diese Tür führt zu dem unterirdischen Gang, der dann in der Villa endet. Hier ist alles ruhig. Unsere Leute sind ringsum postiert und melden uns jede Bewegung, die hier stattfindet.“
Ich bin total aufgeregt. Wie lang mag der Gang sein, der Weg, der zu meinem Kind führt? Wie viele Schritte trennen mich von meinem Sohn? Verzweifelt sehe ich die beiden Männer abwechselnd an. Ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht richtig erkennen. Dazu ist das Licht zu schummerig. Aber Verständnis ist es wohl nicht.
Jean-Marie dreht sich weg und geht zurück. Wahrscheinlich zum Auto. Da ich nicht mehr weiß, wo wir uns befinden, weiß ich auch nicht, wohin er sich wendet. Romain bleibt neben mir.
„Wie fühlen Sie sich? Wissen Sie, ich habe auch zwei Söhne. Sie sind erst zwei und fünf und ich würde mich elend fühlen, wenn ich so eine Situation erleben müsste. Wie halten Sie das aus?“
„Das weiß ich nicht. Ich glaube, dass der Mensch in der Lage ist, Ungeheures auszuhalten, wenn es sein muss. Ich bin völlig am Ende und gleichzeitig voller Hoffnung, nun bald mein Kind wieder zu sehen. Ich versuche, alle Gedanken an sein momentanes Leid zu verdrängen. Das gelingt natürlich nicht ständig. Dann heule ich Rotz und Wasser. Aber ich habe auch das Gefühl, stark sein zu müssen für meinen Mann und meine beiden anderen Kinder. Und natürlich für Maxi. Weil er am schlimmsten dran ist. Und sobald ich daran denke, bricht alles in und über mir zusammen. Deshalb schiebe ich die Gedanken an ihn so gut es geht weg. Weil ich sonst das Gefühl habe,
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