Bist du mein Kind? (German Edition)
sonst immer alles ganz genau wissen. Aber vielleicht hat er Recht. Und es ist besser, wenn ich es nicht weiß. Vielleicht später einmal, wenn Maxi frei ist.
Inzwischen spüre ich die bleierne Müdigkeit in meinen Knochen. Am Fenster steht ein freier Stuhl, auf den ich mich fallen lasse. Ich beobachte die beiden Männer, die Kopfhörer tragen und angestrengt lauschen. Ob sie hören können, was drüben in der Villa geschieht? Mir kommt ein Gedanke. Zögernd stehe ich auf und gehe zu Romain. Als er mich ansieht, verlässt mich der Mut, zu fragen, aber letztendlich geht es hier um mein Kind.
„Kann ich mal so einen Kopfhörer anziehen, vielleicht habe ich ja die Möglichkeit meinen Sohn zu hören. Damit ich wenigstens weiß, wie es ihm geht und ob er sich einigermaßen wohl fühlt. Es ist ja noch der andere Kollege mit dem Kopfhörer da und ihr nehmt doch alles auf. Also würde es nicht stören, wenn ich mal ein paar Minuten horchen kann. Oder?“
Romain antwortet nicht. Einen kleine Moment halte ich sein Zögern aus und dann flehe ich schon fast: „Bitte, Romain, bitte!“
„Ich halte das für keine gute Idee. Ich bin schon fast der Meinung, dass Sie besser nicht hier wären. Wie wollen Sie diese Anspannung bloß aushalten, ohne verrückt zu werden. Stellen Sie sich vor, Sie ziehen jetzt den Kopfhörer an und hören ein Kind weinen? Würden Sie es aushalten, hier ruhig zu sitzen, mit dem Wissen, dass ein paar Meter weiter vielleicht Ihr Kind weint und Sie können ihm nicht helfen? Antworten Sie bitte ehrlich.“
„Ich weiß nicht, ob ich das aushalte. Wahrscheinlich quält es mich bis in mein Innerstes. Aber ich muss es doch ertragen. Weil ich ja dank euch nichts tun kann. Ich möchte doch nur wissen, ob Maxi da drin ist und ob es ihm gut geht. Mehr nicht. Bitte!“
Romain sagt nichts. Ich kann ihm förmlich ansehen, wie er nachdenkt. Er dreht seinen Kopf und sieht Jean-Marie fragend an. Der zuckt die Schultern. Ich sehe von einem zum anderen und erwarte eine Antwort, die offensichtlich keiner geben will. Als ich das Gefühl habe, zerplatzen zu müssen, nickt Romain leicht mit dem Kopf. Ich werte das als Ja und atme erleichtert aus.
„Einverstanden. Aber nur ein paar Minuten. Und Sie müssen mir versprechen, egal was Sie hören, dass Sie Ruhe bewahren und keine unüberlegten Aktionen, wie etwa Flucht oder Befreiungsversuche oder sonst was zu unternehmen. Sind Sie einverstanden?“
Natürlich bin ich einverstanden. Die Möglichkeit, vielleicht mein Kind zu hören, lässt mich zu allem Ja und Amen sagen. Romain sagt etwas zu seinem Kollegen und dieser steht auf. Er hält mir den Kopfhörer hin und ich nehme ihn an. Wie klein die heutzutage geworden sind. Hoffentlich kann man damit auch gut hören.
Erschrocken setze ich mich. Zwei Männerstimmen unterhalten sich und es kommt mir so vor, als stünden sie direkt neben mir.
Die Stimme des einen klingt sehr dunkel und er spricht langsam. Die Stimme des anderen ist höher und er scheint nervös zu sein.
„…aber nicht pünktlich kommt, dann sitzen wir hier mit den Bälgern. Und dann? Ich bin doch kein Babysitter. Die gehen mir sowieso auf den Senkel. Warum heulen Kinder so viel?“
Mein Herz schreit. Mein Kind in den Händen dieser Männer. Warum hilft mir keiner?
„.. ist bisher immer so gelaufen. Übermorgen kommt Celeste und holt die Kinder ab. Das weißt du doch. Warum soll das diesmal anders laufen? Nur weil ein deutsches und ein holländisches Kind dabei sind? Ist doch scheiß egal. Die sollen nicht reden, die sollen hinhalten.“
Ich reiße mir den Hörer vom Kopf. Romain hat Recht. Das kann ich nicht aushalten. Was ich eben gehört habe, lässt mein letzes bisschen Selbstbeherrschung und Vernunft aus mir herausfließen. Ich merke nur noch, dass mir schwindelig wird. Alles dreht sich. Wie durch Watte höre ich jemanden meinen Namen sagen. Ich kann ihm nicht antworten, denn plötzlich ist alles schwarz. Und ich spüre nichts mehr.
Schläge. Jemand schlägt mich. Ich kriege gerade ein paar leichte Ohrfeigen. Was habe ich gemacht? Wieso schlägt mich jemand. Langsam dringt Erkenntnis zu meinem Gehirn durch.
Ich bin in Frankreich, nein Belgien. Mein Kind ist weg. Mein Mann und meine anderen beiden Kinder sind in Frankreich. Wir hatten Urlaub. Horror-Urlaub. Und mein Kind soll hinhalten. Schlagartig bin ich wach.
„Wir müssen die Kinder befreien“, flüstere ich. „Sie wollen, dass die Kinder hinhalten. Das geht doch nicht, diese perversen
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