Bitte Einzelzimmer mit Bad
Briefkästen, die etwas schief an der Mauer hingen. Ein Schild in vier Sprachen besagte, daß der linke Kasten für Post Richtung Genua bestimmt war, während der rechte seinen Inhalt auf die entgegengesetzte Route schicken würde. Bemerkenswert war nur die Tatsache, daß beide Briefkästen zur selben Zeit in denselben Sack geleert wurden. Der Postmensch hatte Tinchen allerdings versichert, man würde die Briefe später wieder auseinandersortieren. Eine längere Diskussion über die Sinnlosigkeit der Briefkasten-Zwillinge war an der Sprachbarriere gescheitert. In ihrem systematischen Vokabelstudium (»Italienisch in 30 Tagen«) war sie erst bis zum Buchstaben M gekommen, also Margarine, Meineid, Mondfinsternis; alles, was mit dem Postversand zu tun hatte und über den Kauf von Briefmarken hinausging, stellte Tinchen noch vor sprachliche Schwierigkeiten.
Bibbernd stand sie zwischen den beiden Kästen und verfolgte die Zeiger der Bahnhofsuhr. Die ging zwar nie ganz genau, aber darauf kam es auch nicht an. Der Sonderzug war noch niemals pünktlich angekommen, und heute bestand sogar die Aussicht, daß er noch später eintrudeln würde als sonst. »Mi dispiace molto, signorina«, hatte Signor Poltano, seines Zeichens Stationsvorsteher, mit tiefbekümmerter Miene versichert, »aber Zug steht noch in Savona. Muß erst Rapido durchlassen, und Rapido hat Verspätung.«
Tinchen nickte ergeben. Wieso auch nicht? Deshalb heißt er ja Eilzug.
Sie trat von einem Bein aufs andere, aber wärmer wurde ihr nicht. Das Wetter hatte umgeschlagen, es war empfindlich kalt geworden, und die dicken Wolkenbänke hatten den ganzen Tag keinen Sonnenstrahl durchgelassen. Schumann hatte zwar behauptet, spätestens morgen früh sei der azurblaue Reiseprospekt-Himmel wieder da, aber vorsichtshalber hatte er doch das Barometer in der Halle ein bißchen manipuliert. »Wenigstens die Hoffnung muß den Gästen bleiben«, hatte er gesagt und den Zeiger mit Tesafilm auf ›Schönwetter‹ fixiert.
»Und wenn’s nun weiterregnet?«
»Dann ist das Ding eben keine deutsche Wertarbeit und folglich kaputt! So was hebt das germanische Selbstwertgefühl!«
Schon vierzig Minuten Verspätung! Tinchen fluchte leise vor sich hin. Der ganze Zeitplan würde wieder durcheinanderkommen! Koffer nicht im Hotel, lauwarmes Essen für die Gäste, schlecht gelaunte Kellner und dazu dieses Mistwetter! Das würde morgen Beschwerden hageln!
Als der Zug endlich aus dem Tunnel tauchte, stöckelte Lilo auf den Bahnsteig. Die mußte entweder einen sechsten Sinn haben oder ein Verhältnis mit dem Stationsvorsteher. »Ciao, Tinchen!«
»Du kannst wohl nie ein bißchen früher da sein?«
»Wozu denn? Wenn ich hier rumstehe, kommt der Zug auch nicht eher!«
Weil sie dieser unwiderlegbaren Logik nichts entgegensetzen konnte, trabte Tinchen wütend zur Lautsprecheranlage. Heute war sie an der Reihe. Sie griff nach dem Mikrofon, räusperte sich kurz und versuchte, das Zischen der Lokomotive und den Lärm der schlagenden Türen zu übertönen:
»Herzlich willkommen in Verenzi! Alle Schmetterlinge, die nun endlich am Ziel sind, wollen bitte aussteigen und ihr Gepäck nicht vergessen. Die Koffer bleiben auf dem Bahnsteig stehen und werden Ihnen später in Ihre Quartiere gebracht. Vor dem Bahnhofsgebäude wartet ein Bus, der Sie sofort in Ihre Hotels fährt. Schmetterlings-Reisen wünscht Ihnen allen einen schönen, erholsamen Urlaub!«
Dämliches Geschwafel! Tinchen hängte das Mikrofon in die Halterung zurück. Gleich fallt ihr wie die Heuschrecken über mich her, weil keiner zugehört hat oder jeder alles noch einmal ganz genau wissen will. Individuelle Betreuung! Von wegen!
»Ach, Fräulein, hat mein Zimmer denn nun wirklich einen Balkon nach Süden?«
»Selbstverständlich!« Sie nickte der betulichen alten Dame freundlich zu und betete insgeheim, es möge sich nicht um jene Amelie von Sowieso handeln, die kategorisch ein sehr ruhiges Eckzimmer, Südlage, mit Blick zum Meer verlangt hatte. Vorsichtshalber hatte Tinchen sie in die. weit entfernt liegende Pension Margarita einquartiert, wo es zwar garantiert keinen Straßenlärm, aber ebenso garantiert keinen Meeresblick gab.
»Sind Sie die Reiseleiterin? Wir möchten nämlich die Zimmer tauschen!«
Zwei Jünglinge, einer davon mit Nickelbrille auf der pickeligen Nase, bauten sich vor Tinchen auf. »Mein Freund und ich … nein, meine Freundin und ich … also die Gudrun und die Heike wohnen in einem anderen Hotel, und
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