Bitte nicht füttern: Roman (Piper Taschenbuch) (German Edition)
seiner Obhut konzentrierte. Damals hatte er sich rührend um Rory gekümmert, heute um Sydney.
Er versuchte, seinen Schmerz vor seinem Sohn zu verbergen, doch Rory entging die Gefühlslage seines Vaters nicht. Er kannte ihn gut genug, um jede Stimmungsschwankung zu erspüren. So, wie er jetzt vor ihm saß, war er zwar äußerlich ruhig und tapfer, aber zutiefst unglücklich.
Ja, Sydney brauchte Frank. Keine Frage. Doch offenbar durchschaute nur Rory, dass umgekehrt das Gleiche galt: Frank brauchte Sydney.
Der Junge war inmitten der Gewitterwolken und Turbulenzen ein wahrer Sonnenschein. Das kokosbraune, von dunklen Locken umrahmte Gesicht mit den leuchtenden Augen strahlte sie alle unentwegt an. Gesprochen hatte er dagegen in den drei Wochen seit seiner Ankunft noch kein einziges Wort. Frank zufolge sprach der Junge grundsätzlich nicht viel, das sei schon so gewesen, als seine Mutter noch dabei war. Jedes Mal, wenn jemand ihn zum Reden bringen wollte, lächelte der Junge scheu und zog den Kopf ein wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzieht.
Statt »Guten Morgen« zu wünschen, lächelte er.
Statt »Gute Nacht« zu wünschen, lächelte er.
Statt »Danke« zu sagen, lächelte er.
Kein einziges Mal bat er um etwas.
Hingegen war er stets strahlend dankbar für alles, was man ihm gab.
»Er ist ein höflicher, stiller Junge«, erklärte Frank den anderen, schien aber gleichzeitig sich selbst beruhigen zu wollen. »Das ist nun mal seine Art. Ich bin sicher, dass er irgendwann auftauen wird ...«
»Schade, dass wir ihn nicht in die Schule schicken können«, entgegnete Rory. »Dieses Versteckspiel tut ihm bestimmt nicht sonderlich gut.«
»Das sehe ich genauso.« Julia nickte. »Und eurem Anliegen, ihn hierzubehalten, wäre es sicher auch nur dienlich, wenn er ein normales Leben mit einem vernünftigen Alltag führte. Zumal, wenn wir uns an die offiziellen Spielregeln halten müssen ...«
Rory und Frank sahen einander an. Ihr Blick sagte mehr als tausend Worte. Sie wussten bereits, dass es mit den offiziellen Spielregeln verdammt schwierig werden würde. So viele Punkte sprachen gegen sie: Die Tatsache, dass Frank Sydney ohne Ausweispapiere ins Land geschmuggelt hatte; Franks Alter; der Umstand, dass Sydney mit keinem von ihnen verwandt war und kein Wort Englisch sprach ...
Die einzigen Spielregeln, die zu funktionieren schienen, waren offensichtlich Consuelas. Und obwohl diese ganz klar waren, vermuteten alle, dass noch irgendein Haken dabei war.
Frank gestand Rory, dass Consuela unzählige Male angerufen hatte. Zuerst dachte Rory, sie habe möglicherweise ihre Meinung geändert, doch Frank versicherte ihm, es gehe ihr weiterhin allein ums Geld. Kein einziges Mal hatte sie sich nach dem Jungen erkundigt, kein einziges Mal hatte sie mit ihm sprechen wollen. Das bestätigte Rory in seiner Ansicht, dass der Junge bei seinem Vater bleiben sollte.
Frank war Rory ein großartiger Vater gewesen – und er würde auch Sydney ein großartiger Vater sein. Er war es ja bereits. Dass der Junge nicht zur Schule ging, hieß nicht, dass er nichts lernte. Frank brachte ihm Angeln und Fahrradfahren bei, er zeigte ihm, wie man sich mit Karte und Kompass in Cornwall zurechtfand, wie man die besten Gezeitentümpel mit jeder Menge interessantem Getier zwischen den Felsen fand, er brachte ihm das Surfen, Schwimmen und Rollerskaten bei und zeigte ihm, wie man einen Drachen steigen ließ und die Menschen um sich herum um den Finger wickelte.
Sydney war glücklich. Und was noch wichtiger war: Er war glücklich bei ihnen. Und das reichte als Rechtfertigung. Wenn man weiß, dass man etwas tut, das andere für falsch halten, hilft es zu wissen, dass man damit Gutes tut. Immer wenn Rory Zweifel an ihrer Vorgehensweise kamen, rief er sich das Wesentliche in Erinnerung: dass Consuela ihren Sohn als lästig empfand und dass Frank ihn nach kurzer Zeit der Bekanntschaft bereits von ganzem Herzen liebte.
So wie Rory. Er bereute keinen Augenblick, was nur wegen dieses kleinen Jungen derzeit in seinem geliebten Restaurant vor sich ging: Wie hungrige Heuschrecken waren Freddie und sein Team über das Cockleshell hergefallen. In Windeseile hatte es sich herumgesprochen, dass demnächst jede Menge Promis im Cockleshell anzutreffen wären, und darum wimmelte es schon jetzt vor einheimischen und urlaubenden Schaulustigen, die hofften, einen Blick auf oder ein Autogramm von irgendeinem Star zu ergattern, oder wenigstens aufgeregt
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