Bitter im Abgang
keinen Fall gratis bekam? Dahinter steckte zweifellos ein Propagandaapparat, der zwar nicht so mächtig war wie das Fernsehen, das Tibaldi mit seinen Werbeetats nach Kräften unterstützte, dafür aber bestimmte Kreise erreichte, die ihm immer verschlossen bleiben würden. Überall platzierte Moresco seinen Barbaresco, beim Konzert eines bekannten Sängers, im Film eines Cineasten, in der Reportage eines renommierten Korrespondenten. Es gab ein Italien, das arbeitete und Wohlstand produzierte. Und es gab ein anderes Italien, das danach trachtete, das Bewusstsein der Menschen zu beherrschen; und früher oder später würde dieses Italien dem arbeitsamen in die Quere kommen und ihm einen Kompromiss aufzwingen, der um vieles mühseliger zu erzielen wäre als jener, den Kirche und Partisanen damals in Alba in einer Nacht gefunden hatten.
Dabei ging es Antonio Tibaldi keinesfalls um die eigene Bekanntheit. Bekannt sein sollten seine Produkte, nicht er. Aber den Kommunisten musste man im Auge behalten. Eigentlich lag es auch in seinem Interesse, Stillschweigen zu bewahren. Doch bei diesen Roten konnte man nie wissen. Sie kannten keine Beichte, die den Christen ein Höchstmaß an Demutabverlangte und ein Höchstmaß an Verschwiegenheit garantierte. Bei den Roten konnte es einem durchaus passieren, dass sie urplötzlich mit einer Selbstkritik an die Öffentlichkeit gingen. Folglich musste man Moresco überwachen, ihn beobachten lassen, sein Verhalten analysieren. Man musste wissen, wer seine Freunde waren, mit welchen Frauen er sich traf, wo seine Schwachpunkte lagen. Um dann, bei Bedarf, im passenden Moment zu handeln.
Sicher, im Augenblick bestand kein Bedarf. Er, Tibaldi, und der Kommunist kamen sich nicht ins Gehege. Die Arbeiter waren friedlich. Pater Bergoglio hatte getan, was er konnte, und inzwischen war Tibladi auf seine Protektion nicht mehr angewiesen. Die grundlegende Lektion hatte er gelernt: Am wichtigsten ist, dass alles in der Familie bleibt.
Aber auch da gab es manchen Schatten. Seit einiger Zeit zeigte seine Mutter Anzeichen von Nervenschwäche. Speziell in diesen Tagen wirkte sie durcheinander und stark mitgenommen. Als zeitige der Tod des Ehemanns, der bereits Jahre zurücklag, erst jetzt seine Wirkung. Inzwischen war Tibaldi selbst im Begriff, eine eigene Familie zu gründen und sich für eine der vielen Frauen zu entscheiden, unter denen er aufgrund seines Talents und seines Reichtums die Wahl hatte. Wenn er die ersten weißen Haare bekäme, sei es so weit, hatte er immer gesagt. Und vielleichtbrauchte er gar nicht so weit zu suchen. Schon lange war er mit seiner Sekretärin sehr zufrieden, nicht nur im Büro. Außerdem war er zu der Überzeugung gelangt, dass sie ihm Glück bringe. Und tatsächlich, die Geschäfte waren noch nie so gut gegangen.
42
Alba,
Dienstag, 27. April 2011, 12 Uhr
«Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs, Herr Inspektor?»
Tibaldi hatte die Höflichkeit des Vorgesetzten, der zwar die Rolle des anderen respektiert, ihn aber zugleich auffordert, seine Worte sorgsam abzuwägen und keine Zeit zu verschwenden.
«Nur ein paar Fragen, Dottore.»
«Gern. Ich danke Ihnen, dass Sie Ihren Besuch vorher angekündigt haben. Wie Sie sehen, habe ich keine Notwendigkeit gesehen, meinen Anwalt hinzuzuziehen.»
«Daran haben Sie gut getan. Denn natürlich liegt gegen Sie nichts vor.»
«Natürlich. Deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie diese Unterredung vertraulich behandeln könnten.»
«Sicher. Aber die Ermittlungen haben ergeben, dass Sie irgendwie mit der Sache zu tun haben.»
«Und wie, wenn ich fragen darf?»
«Dottor Tibaldi, das wissen Sie doch. Moresco wurde ermordet, weil er die Hälfte des Schatzes für sich behalten hat. Nun frage ich mich natürlich, wo die andere Hälfte geblieben ist.»
«Und da kommen Sie zu mir?»
«Ich sehe keine anderen Geldschränke in der Stadt.» Tibaldi atmete tief ein. Und schüttelte den schlohweißen Kopf. Dann setzte er den Ausdruck des Piemontesen auf, der die Uniform respektiert, aber keineswegs gewillt ist, sich belehren zu lassen, schon gar nicht von einem Süditaliener.
«Sehen Sie, Herr Inspektor, auch ich habe von dieser alten Legende gehört. Eine fabelhafte Geschichte, keine Frage. Aber die Realität ist doch viel prosaischer. Und sie ist das Einzige, was zählt. In der Stadt gibt es überhaupt keine Geldschränke. Und keinen Schatz. Der Schatz, das sind wir selbst. Unser Fleiß, unser Wunsch zu expandieren, zu
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