Bitter Lemon - Thriller
hatte. Ein Deutscher. Jedenfalls null Akzent. Freundlich, ordentlicher Anzug, Krawatte. Stellte sich mir als Rechtsanwalt Waldorf vor. Sagte mir, das Haus würde jetzt erst mal auf Vordermann gebracht, für einen Klienten von ihm, einen Industriellen aus Köln, der Ruhe und Entspannung in der Natur suche. Erklärte mir, die Frauen, die ich gesehen hätte, seien Reinigungskräfte, geschickt von einer Zeitarbeitsfirma, und die Männer seien Handwerker. Installateure und Tischler. Und dann verabschiedete er sich höflich von mir und schloss die Tür.«
»Sie sagten: Rechtsanwalt Waldorf?«
»Ja.«
»Heinz Waldorf?«
»Ja, genau der. Der neulich umgebracht wurde, in seiner Wohnung in Köln. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Da gab es ein Foto, und ich habe ihn sofort erkannt.«
»Und damals?«
»Was … damals?«
»Waldorf schloss die Tür, ohne Sie hereinzubitten … das ist doch sicher nicht üblich, hier auf dem Land, oder?«
»Nein, das ist hier nicht üblich.«
»Üblicherweise kriegt man einen Kaffee angeboten, oder einen Schnaps, man plaudert ein wenig …«
»Ja, so ist das normalerweise auf dem Land. Aber es ziehen immer mehr Fremde aus der Stadt aufs Land, und das verändert die Sitten. Die Leute aus der Stadt sind anders.«
»Ja, und die Leute auf dem Land helfen noch einander, sie passen aufeinander auf, nicht wahr?«
»Ich sagte doch schon: Die waren nicht von hier.«
»Aber Sie sind von hier, Herr Räderscheidt.«
»Was wollen Sie mir damit sagen?«
»Sie sind einfach gegangen?«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
»Den Frauen helfen.«
»Ich bin ein alter Mann.«
»Das waren Sie vor 13 Jahren noch nicht. Sie verstehen es, mit dem Gewehr umzugehen. Sie haben viele Freunde im Dorf. Sie hätten auch zur Polizei gehen können.«
»Hier gibt es weit und breit keine Polizei. Bis die gekommen wären … Außerdem: Sie hätten diese Schlägertypen mal sehen müssen. Ich bin kein Held, Frau Gleisberg. Die hätten doch dann gleich gewusst, wer sie verraten hat.«
Ein kurzes, kaum merkliches Ziehen an der Leine, und der Hund erhob sich augenblicklich aus seiner Sitzposition. Gerald Räderscheidt machte auf dem Absatz kehrt.
»Tut mir leid, Herr Räderscheidt. Es steht mir nicht zu, über Sie zu urteilen. Ich habe mich unmöglich benommen.«
Der Förster verließ den Raum. Kristina lief ihm nach und holte ihn erst auf der Freitreppe ein.
»Herr Räderscheidt! Bitte!«
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Wann waren Sie das nächste Mal hier?«
Räderscheidt hielt inne, blieb unschlüssig auf dem Absatz stehen. Der Hund setzte sich erneut und sah Kristina aus treu herzigen Augen an. Der Förster vermied den Blickkontakt zu ihr.
»Anfang Februar.«
»Und ist Ihnen da was aufgefallen?«
»Ja. Sie waren verschwunden. Niemand mehr da. Und die Villa war komplett geräumt. Alle Möbel weg, alle Teppiche. Sie hatten gründlich sauber gemacht. Es roch überall penetrant nach Desinfektionsmittel, wie im Krankenhaus. Ich muss jetzt gehen, Frau Gleisberg. Ich weiß auch jetzt, woher ich Sie kenne. Aus dem Fernsehen. Sie haben diesen Mörder aus dem Gefängnis geholt. Diesen Kroaten, der dann den Waldorf umgebracht hat.«
»Er hat ihn nicht umgebracht.«
»Nicht? Aber die Polizei sucht ihn doch deshalb.«
»Herr Räderscheidt, manchmal ist die Wahrheit komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint.«
»Das ist wohl wahr. Ich habe mir damals, als ich in dem leeren Haus stand, schwere Vorwürfe gemacht. Auch noch Wochen danach. Bin nachts wach geworden davon. Aber irgendwann vergisst man. Streicht alles aus dem Gedächtnis. Bis heute. Die Frauen … das waren dann wohl keine Reinigungskräfte von der Zeitarbeitsfirma, nicht wahr?«
»Nein, Herr Räderscheidt. Das waren keine Reinigungskräfte von der Zeitarbeitsfirma. Das waren Sklaven. Auf Lebenszeit.«
Das Savoy passte von innen wie von außen perfekt zu dieser hässlichen, liebenswürdigen Stadt. Von außen wirkte das Hotel an der Turiner Straße wie ein gesichtsloser, erinnerungsloser, aus grauem Beton gegossener Büroklotz. Kein Wunder, denn der neunstöckige Betonwürfel beherbergte zunächst Büros, als er in den siebziger Jahren gebaut worden war, an der vierspurigen Schnellstraße, die das Eigelstein-Viertel erstickte.
Unter dem Pflaster liegt der Strand. Das war einer dieser Sprüche, die Elke Manthey ständig benutzt und ihrem Sohn ins Gedächtnis gebrannt hatte. David Manthey sah auf die Uhr und beobachtete wieder das
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