Bitter Lemon - Thriller
er den Knopf neben dem Aufzug und warf einen Blick auf sein linkes Handgelenk. Drei Uhr. Feierabend. Und morgen war heute. Als sich die Tür des Aufzugs endlich öffnete, wurde ihm klar, für wen das zweite Weinglas gedacht war.
Sie war vielleicht nicht ganz so schön wie Romy Schneider. Weil nach Deckerts felsenfester Überzeugung keine Frau dieser Welt so schön wie Romy Schneider sein konnte. Die Frau, die aus dem Aufzug trat, schenkte ihm ein beeindruckendes Lächeln. Deckert stierte ihr nach wie ein pubertierender Schuljunge, die Augen auf ihrem Hintern, in der Nase ihr Parfüm. Kurz bevor sie Uwe Kerns Tür erreichte, wandte sie im Gehen überraschend den Kopf und schenkte ihm ein zweites Lächeln. Deckert fühlte sich ertappt, wandte sich ab und beeilte sich, im Aufzug zu verschwinden. Als er den Knopf fürs Erdgeschoss drückte, überkam ihn die Ahnung, dass man dieses Lächeln kaufen konnte.
Sie verließen das Severinsviertel in Richtung Norden. Manthey mied die verkehrsreichen Ringstraßen, die wie Sicheln die linksrheinische Hälfte Kölns umschlangen, ebenso wie die sternförmigen Ausfallstraßen, die den Stadtkern mit der Peripherie verbanden. Nachdem sie das Agnesviertel passiert hatten, verlor Kristina Gleisberg die Orientierung. Der klapprige R4 jagte über verwaiste Pisten durch gleichförmige Landschaften aus Asphalt und Beton, vorbei an schmutziggrauen Mietshäusern, in denen Menschen schliefen, träumten, liebten, hassten.
Sie sprachen kein Wort.
Im Schutz der Dunkelheit betrachtete Kristina Gleisberg den fremden Mann, der sie binnen Minuten dazu gebracht hatte, über Häuserdächer zu klettern und die Polizei zu belügen, und dem sie ohne langes Nachdenken gestattet hatte, ihr bislang so sorgsam geordnetes Leben nun vollends aus den Fugen zu heben.
Geordnet. War ihr Leben vor einer Stunde tatsächlich noch so geordnet gewesen? Schließlich hatte sie bereits Marc und dann ihren Job verloren. Vielleicht war es da nur folgerichtig, auch noch das Zuhause zu verlieren.
Vergeblich versuchte sie den Gedanken abzuschütteln, dass soeben ein Folterer und Killer ihre Wohnung in Augenschein nahm, die Schubladen durchwühlte …
Der Mann neben ihr, von dem sie kaum mehr als seinen Namen wusste, ignorierte sämtliche Regeln der Straßenverkehrsordnung, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt. Seine Hände schienen mit dem abgegriffenen Lenkrad verwachsen zu sein. In regelmäßigen Abständen warf er einen Blick in den Rückspiegel. Nicht nervös oder ängstlich. Er wirkte lediglich hochkonzentriert, nicht mehr und nicht weniger.
Hatte sie sich möglicherweise einem durchgeknallten paranoiden Spinner ausgeliefert? Mitten in der Nacht in dieser gottverlassenen Gegend? Wohin fuhren sie überhaupt? Warum verspürte sie keine Angst? Wo war nur ihr gesundes Misstrauen abgeblieben?
Sie wusste die Antwort: Ihr Misstrauen hatte sie auf dem Küchentisch des alten Trompeters liegen gelassen.
»Als ich heute Nachmittag unangemeldet, einfach so, auf gut Glück, im Stavenhof aufgekreuzt bin …«
»Ja?«
»Dieser Günther Oschatz.«
»Was ist mit ihm?«
»Ich bin in meinem Leben selten einem so liebenswürdigen Menschen begegnet. Er hat mich angestrahlt, als sei ich eine alte Bekannte, und sofort hereingebeten. Er hat mir Kaffee gekocht …«
»Günther macht den besten Kaffee der Welt.«
»Ich meine damit nicht, dass der Kaffee entscheidend war. Aber er kann mit einer einzigen Tasse Kaffee so viel Geborgenheit vermitteln. Einem wildfremden Menschen. Erstaunlich. Man muss ihn auf der Stelle gernhaben. Er hat so nett über dich gesprochen. Wie ein gütiger und stolzer Vater über seinen Sohn. Er muss dich sehr lieben. Diese Freundlichkeit und Offenheit. Ich befürchte, dass ihn seine Arglosigkeit sehr verletzbar macht …«
»Keine Sorge. Günther ist in Sicherheit.«
»In Sicherheit?«
Manthey nickte kurz und konzentrierte sich wieder auf die Straßen und den Rückspiegel. Er lächelte still. Kristina registrierte die beiden Grübchen in den Mundwinkeln und die Lachfalten um die Augen. Wie alt mochte er sein? Mindestens zehn Jahre älter als sie. Warum sprach er nicht weiter?
»Aha. In Sicherheit.«
Keine Antwort.
»Ist das Gespräch hiermit beendet?«
»Kristina, du hast immer noch nicht begriffen, in welcher Gefahr du schwebst. Das ist übrigens kein Vorwurf. Du hattest vermutlich bisher keine Gelegenheit, Erfahrungen mit der … anderen … Welt zu sammeln. Wir brauchen ein sicheres
Weitere Kostenlose Bücher