Bitter Lemon - Thriller
des Flughafens. Dort sind gestern Abend tatsächlich zwei Männer abgestiegen, die sich mit diesen Pässen auswiesen. Sie haben heute Vormittag gefrühstückt, ausgecheckt, in bar bezahlt und sind dann abgereist. Mit einem schwarzen Mercedes, der für sie bereits am Vortag auf dem Parkplatz des Hotels abgestellt worden war. Den Schlüssel für den Wagen hatte gestern jemand beim Portier hinterlegt. Nach dem Zwischenfall am Bahnhof und der kurzen Vernehmung auf der Polizeiwache sind die beiden Männer übrigens spurlos verschwunden.«
»Ich wette, unsere rechtschaffene Polizei hat schon sämtliche Flughäfen und Fluggesellschaften in Deutschland mit den Angaben aus den beiden Pässen versorgt.«
»Aber bislang ohne Ergebnis.«
»Wie naiv ist dieser Staat eigentlich? Glaubt tatsächlich jemand, diese Pässe würden je wieder benutzt? Die beiden Typen, von denen wir nicht einmal wissen, ob es tatsächlich Russen sind, haben sich am Hauptbahnhof in einen der nächstbesten Shuttle-Busse für polnische Wanderarbeiter gesetzt. In Warschau nehmen sie unter ihren Echtnamen eine polnische oder russische Maschine nach Sankt Petersburg und melden sich zerknirscht bei ihrem Arbeitgeber. Der wird sie bestrafen, Strafe muss sein, vielleicht ist der Verlust des ersten Gliedes des kleinen Fingers der linken Hand angemessen und ausreichend. Vor allem aber wird er sie nie wieder in Deutschland einsetzen.«
»Was heißt das?«
»Vielleicht dürfen sie den Rest ihres Lebens Schutzgelder in Sofia oder Riga eintreiben. Stattdessen wird ein frischer Trupp nach Köln entsandt. Neue Namen, neue Pässe. Litauer, Ukrainer, Moldawier, oder diesmal Serben? Wieder zwei, oder vier, oder sechs, oder acht? Wir Deutschen lassen sie rein, natürlich lassen wir sie rein, wir sind schließlich ein tolerantes, weltoffenes Land, rechtschaffen und naiv. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sie so schnell reagieren. Wir haben unseren Vorsprung verspielt, Deckert. Haben Sie das Video?«
Lars Deckert schob den USB-Stick in sein Notebook, das immer noch eingeschaltet auf der chinesischen Kommode stand. Das Bild war, wie sich das offenbar für Überwachungskameras geziemte, unscharf und körnig. Vor dem Kühler des schwarzen Mercedes, dessen Kennzeichen unmöglich zu entziffern war, wälzten sich Menschen auf dem Asphalt. Zuoberst ein Dutzend Kölner Taxifahrer, zuunterst zwei inzwischen erschlaffte Schläger, in deren Lederjacken falsche Diplomatenpässe steckten.
»Da ist er!«
Deckert deutete mit dem Zeigefinger auf den Monitor. David Manthey rannte durchs Bild und verschwand im Bahnhof. Nur wenige Sekunden später tauchte sein Verfolger auf, zögerte einen kurzen Moment angesichts der Schlägerei am Taxistand, noch unschlüssig, ob er eingreifen sollte, sprintete dann aber weiter und verschwand ebenfalls im Gebäude, tauchte aber sofort wieder auf, ignorierte die Schlägerei diesmal völlig und ging zügigen, aber gemessenen Schrittes aus dem Bild. Wie ein Geschäftsreisender auf dem Weg zum nächsten Termin.
Nur der Körper und die gewaltige Sonnenbrille passten nicht zu einem Geschäftsreisenden.
»Ein Riese.«
»In der Branche nennen sie ihn den Albino.«
»Was? Sie kennen den Mann?«
»Kennen ist zum Glück zu viel gesagt. Denn wer ihn einmal näher kennengelernt hat, ist gewöhnlich nicht mehr in der Lage, sich zu wünschen, ihn nie kennengelernt zu haben. Und Jerkov kann Gott danken, wenn wir ihn finden, bevor der Albino ihn findet. Wissen Sie, warum er diese Sonnenbrille trägt?«
»Sie werden es mir sagen.«
»Menschen, die unter Albinismus leiden, sind nicht in der Lage, das Farbpigment Melanin zu produzieren, das die Haut vor der UV-Strahlung der Sonne schützt. Die Genmutation hat aber noch eine weitere Folge: Das Melanin fehlt nämlich auch im Auge, so dass albinische Menschen extrem blendempfindlich sind, aber auch unscharf sehen und ferner das räumliche Sehen erheblich eingeschränkt ist. Sie können ohne Brille keine Entfernungen abschätzen. Kontaktlinsen sind wegen der empfindlichen Augen oft ein Problem, und so bleibt in vielen Fällen nur das dauerhafte Tragen einer stark getönten Brille. So, nun machen Sie Feierabend, Deckert. Den haben Sie sich verdient. Morgen geht’s weiter. Es gibt viel zu tun. Ich erwarte Sie um halb neun.«
Kern wandte sich grußlos dem Fenster zu.
Deckert schloss die Tür hinter sich. Geräuschlos. Diese Tür ließ sich gar nicht anders als geräuschlos schließen. Im Flur drückte
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