Bitter Lemon - Thriller
wird vermutlich überall zu sehen sein. Herrgott noch mal, ich weiß selbst, wie viele Werbeminuten der Sender schon verkauft hat. Piet, du musst mir jetzt helfen, damit aus der Scheiße kein Desaster für die Firma wird. Nein, wir sagen nichts ab, im Gegenteil, wir machen die Sendung. Kauf alles an bewegten Bildern zusammen, was du kriegen kannst. Misch es mit den alten Einspielern aus dem Archiv, ja, all das Zeug, das die Gleisberg schon auf Sendung hatte. Aber dann gibst du der Geschichte einen neuen Dreh. Hör mir jetzt genau zu: Dieser Jerkov ist für uns ab sofort kein unschuldiges Opfer mehr, sondern ein Krimineller, der mit seinen Lügen sogar den Bundespräsidenten linkt, ein Kokain-Dealer, der Kinder zum Rauschgift verführt, und so weiter und so weiter … was? Woher ich das weiß? Piet, die Wahrheit ist mir jetzt scheißegal. Ich versuche gerade, unseren Arsch zu retten. Und noch was: Der Kerl hat damals im Knast einen unschuldigen Mithäftling getötet. Dieser Aspekt kam bisher viel zu kurz in unserer Berichterstattung. Und unsere Justiz lässt so einen vorzeitig laufen. Besorg dir ein paar Experten, die vor der Kamera über unsere lasche Strafjustiz schwadronieren, heute Abend live vor der Kamera. Was? Natürlich sind die so schnell aufzutreiben. Alles nur eine Frage des Preises. Ist mir scheißegal, was das kostet. Und dann müsste im Lauf der Sendung ein paar Male beiläufig erwähnt werden, dass er aus Jugo-Land stammt, damit alle beim Zugucken kapieren: er ist Ausländer, ein A-U-S-L-Ä-N-D-E-R … was hast du gesagt? Das ist mir scheißegal, dass er einen deutschen Pass hat, kapiert? Es geht nicht darum, was wahr ist, sondern darum, was die Leute glauben wollen. Ich sagte, ihr sollt es beiläufig erwähnen. Elegant, verstehst du? Und jetzt kommt’s, zum Mitschreiben, Piet, für die Moderation, aber nicht gleich zu Beginn der Sendung, sondern erst mittendrin, sonst zappen ja alle in den ersten zwei Minuten weg: Nach diesen jüngsten und erschütternden Recherche-Ergebnissen haben wir aus ethisch-moralischen Erwägungen entschieden, auf ein Interview mit dem Dreckskerl zu verzichten, um diesem Kriminellen keine Bühne, bla, bla, bla, verstehst du, alle anderen Deppen laufen noch brav und munter in die Richtung, die wir vorgegeben haben, aber wir drehen den Spieß jetzt um, neuer Kurs und Volldampf voraus, exklusiv bei … was? Die Gleisberg? Nein, die kannst du nicht haben, Piet. Warum? Die Gleisberg ist draußen. Piet? Ich verlass’ mich auf dich! Klar? Leg’ los. Tschüssi.«
Der Lufthansa-Flug nach Berlin wurde aufgerufen.
»Das ist nicht fair, Herr Koch.«
Frank Koch ignorierte sie und stopfte das BlackBerry in die Außentasche seines Sakkos.
»Herr Koch, das hat Jerkov nicht verdient. Er ist unschuldig. Er hat keinen Mord begangen, das wissen Sie doch ganz genau. Und die andere Sache, im Knast, das war pure Notwehr. Dafür hat er zwölf Jahre abgesessen. Bitte!«
»Schätzchen, dein Job war es, den Kerl ins Studio zu bugsieren. Jetzt ist er weg. Du hast also kläglich versagt.«
Frank Koch erhob sich aus seinem Sessel und folgte dem Minister in Richtung Ausgang. Auf halbem Weg blieb er abrupt stehen und drehte sich um.
»Ach, Schätzchen, bevor ich es vergesse …«
Er redete laut genug, dass alle in der Lounge die Köpfe hoben, aber leise genug, dass jeder auf der Stelle ahnte, dass hier, jetzt, quer durch den Raum, etwas sehr Persönliches, sehr Intimes und damit ungeheuer Interessantes besprochen wurde:
»Du bist gefeuert.«
Formentera ist nur knapp 83 Quadratkilometer groß und somit die mit Abstand kleinste der vier bewohnten Balearen-Inseln. Dem ersten Anschein nach fast schon eine Beleidigung für zwei erfahrene Personenfahnder.
Doch mit Ausnahme der 19 Kilometer langen, asphaltierten West-Ost-Achse vom Hafen in La Sabina bis zur Hochebene La Mola sind die Landstraßen auf der Insel bucklige Staubpisten, die keine Namen tragen, ebenso wie die armseligen, zwischen Olivenhainen geduckten Bauernhöfe keine Hausnummern besitzen. Auch Wegweiser sucht man vergebens – abgesehen von einigen windschiefen Hinweisen auf die Inselhauptstadt San Francisco mit ihren knapp 1500 Einwohnern und auf die noch kleinere Nachbarstadt San Fernando.
Das hatten die beiden Männer, die am Nachmittag im Hafen die Fähre aus Ibiza über die wacklige Gangway verließen, nicht bedacht. Daraus war ihnen kein Vorwurf zu machen, denn sie hatten erst wenige Stunden zuvor ihr Reiseziel erfahren, und so
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