Bitter Süsse Tode
wo Nikolaos gesessen hatte. Nur der hölzerne Lehnstuhl war zurückgeblieben, leer, einsam. Ein Sarg stand daneben. Auf dem polierten Holz glänzte das Fackellicht. Ein leichter Wind wehte durch den Raum. Die Flammen flackerten und warfen riesige schwarze Schatten auf die Wände. Sie schienen sich unabhängig vom Licht zu bewegen. Je länger ich sie beobachtete, desto sicherer war ich, dass sie zu finster, zu dicht waren.
Ich schmeckte mein Herz in der Kehle. Der Puls hämmerte in meinem Kopf. Ich konnte nicht atmen. Dann merkte ich, dass ich einen zweiten Herzschlag hörte, wie ein Echo. »Jean-Claude?« Die Schatten riefen »Jean-Claude« in jammervollem Ton.
16. Kapitel
Ich kniete mich vor den Sarg und hob den Deckel an. Er bestand aus einem Stück und hob sich in gut geölten Angeln. Blut floss über den Rand. Es floss mir über die Beine, spritzte mir auf die Arme. Ich stand schreiend auf, ich war mit Blut besudelt. Es war noch warm.
»Jean-Claude!«
Eine bleiche Hand hob sich aus dem Blut, verkrampfte sich und fiel gegen die Sargwand. Jean-Claudes Gesicht stieg an die Oberfläche. Unwillkürlich griff ich nach ihm. Sein Herz pochte in meinem Kopf, aber er war tot. Er war tot! Seine Hand war eisig und wächsern. Er schlug die Augen auf. Die tote Hand packte mich am Handgelenk.
»Nein!« Ich versuchte mich loszureißen. Ich ging auf die Knie in die Blutpfütze und schrie: »Lass mich los!«
Er setzte sich auf. Er war voller Blut. Das weiße Hemd triefte wie ein blutgetränkter Lappen.
»Nein!«
Er zog meinen Arm näher zu sich heran und zog mich mit. Ich klammerte mich mit einer Hand an der Sargkante fest. Ich würde mich nicht zu ihm legen. Nicht zu ihm legen! Er beugte sich über meinen Arm, den Mund weit geöffnet, die Fänge kamen immer näher. Sein Herz ging laut wie Donnerschläge. »Jean-Claude, nicht!«
Er blickte mich von unten herauf an, kurz bevor er zubiss. »Ich hatte keine andere Wahl.« Das Blut rann ihm aus den Haaren über das Gesicht, bis es eine blutige Maske war. Die Fänge bohrten sich in meinen Arm. Ich schrie und erwachte aufrecht sitzend im Bett.
Es klingelte an der Tür. Ich krabbelte automatisch aus dem Bett. Ich schnappte nach Luft. Für die Prügel, die ich letzte Nacht bezogen hatte, war die Bewegung zu schnell gewesen. Mir tat alles weh, selbst Stellen, wo ich unmöglich einen Bluterguss haben konnte. Meine Hände waren steif wie Schorf, fühlten sich arthritisch an.
Die Türklingel summte in einem fort, als ob sich jemand dagegen lehnte. Wer immer das war, den würde ich mir zur Brust nehmen, weil er mich geweckt hatte. Ich schlief in einem übergroßen Oberhemd. Die Jeans der vergangenen Nacht überzuziehen war mein Morgenmantelersatz.
Ich steckte Sigmund, den Stoffpinguin, zu all den übrigen. Die Stofftiere saßen auf einem kleinen Zweisitzer an der gegenüberliegenden Wand unter dem Fenster. Pinguine säumten die Fußleiste wie ein dicker, flaumiger Strom.
Jede Bewegung schmerzte. Sogar beim Atmen war mir mulmig. »Ich komme«, rief ich. Auf halbem Weg zur Tür kam mir der Gedanke, dass es jemand Unfreundliches sein könnte. Ich tappte zurück ins Schlafzimmer und holte die Pistole. Meine Hand fühlte sich beim Greifen seltsam an. Ich hätte sie letzte Nacht säubern und verbinden sollen. Tja.
Ich kniete mich hinter den Sessel, den Edward gegenüber der Tür hingestellt hatte, und rief: »Wer ist da?«
»Ich bin's, Ronnie. Wir wollten heute Morgen trainieren.«
Es war Samstag. Ich hatte es vergessen. Es war immer erstaunlich, wie gewöhnlich das Leben ist, sogar während die Leute versuchen, einem das Licht auszublasen. Ich hatte das Gefühl, als sollte Ronnie über die vergangene Nacht Bescheid wissen. Etwas so Außergewöhnliches sollte mein ganzes Leben berühren, aber so etwas klappt leider nicht. Als ich damals im Krankenhaus lag mit dem Arm im Streckverband und lauter Schläuchen im Körper, beklagte sich meine Stiefmutter darüber, dass ich noch nicht verheiratet war. Sie machte sich Sorgen, dass ich im reifen Alter von vierundzwanzig eine alte Jungfer werden könnte. Judith ist keine Frau, die man emanzipiert nennen würde.
Meine Familie kommt nicht gut zurecht mit dem, was ich tue, mit dem Risiko, das ich eingehe, den Verletzungen. Darum ignorieren sie es, so gut es geht. Mit Ausnahme meines sechzehnjährigen Stiefbruders. Josh findet mich cool, klasse oder was sie sonst an Ausdrücken dafür benutzen.
Veronica Sims ist anders. Sie ist meine Freundin
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