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Bittere Mandeln

Bittere Mandeln

Titel: Bittere Mandeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sujata
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vorbeikommen, aber nicht vor Mitternacht. Und danach gehen, wie du weißt, keine Züge mehr, also müßte ich bei dir übernachten.«
    »Keine Chance«, sagte ich grimmig. »Meine Tante schläft auf dem Gästefuton. Und obwohl sie vermutlich weiß, daß du schwul bist, wäre es ihr wahrscheinlich nicht recht, wenn wir im selben Bett schlafen.«
    »Das klingt, als hätte sich deine Wohnung in den Schlafsaal eines katholischen Internats verwandelt.« Richard lachte verächtlich. »Ich versuche, bald mal bei dir vorbeizukommen. Aber jetzt muß ich wirklich ins Salsa Salsa, sonst verpasse ich die Happy Hour.«

    Meine Tante blieb länger weg, als ich erwartet hatte. Ich machte ein kleines Arrangement aus Rosen, und hinterher gelang es mir, zu meiner tansu- Kommode hinüberzuhumpeln und den Strauß Bittersüßer Nachtschatten zu holen, die Takeo mir gebracht hatte. Jetzt erschienen sie mir nicht mehr ganz so unkrautartig wie zuvor. Die schmalen Zweige bogen sich auf elegante und ganz natürliche Weise, so daß ich sie nicht erst gewaltsam verbiegen mußte.
    Ich arrangierte die Nachtschatten mit den Azaleen, die Mrs. Koda mir geschickt hatte, aber irgendwie wirkten deren trompetenartige Blüten deplaziert neben dem spröden Bittersüß. Also beschloß ich, mit Bittersüß allein zu arbeiten. Tante Norie hatte mein Lehrbuch genau an der richtigen Stelle aufgeschlagen – irgendwo in der Mitte, bei einer Aufgabe mit nur einem Material. Ich war lediglich sechs Monate zu früh dran mit dieser Übung.
    Die Stunden vergingen, und allmählich wurde es dunkel in meiner Wohnung. Ich knipste eine Lampe an und ärgerte mich, daß ich meine kleinen tragbaren Kerosinöfen im Vertrauen auf das Frühlingswetter bereits weggepackt hatte. Jetzt saß mir die Feuchtigkeit in den Knochen. Ich fühlte mich nicht kräftig genug, um die Öfen vom obersten Fach meines Schranks herunterzuwuchten, also begnügte ich mich mit zwei weiteren Pullovern sowie einem zweiten Paar Socken und machte es mir vor dem Fernseher bequem, um die Abendnachrichten anzusehen.
    Der Kommentator erklärte, in den vergangenen drei Tagen seien in den Krankenhäusern Tokios einhundertfünfzig Leute wegen Alkoholvergiftung behandelt worden, die sie sich während der Kirschblütenfeste zugezogen hätten. Der Regen des heutigen Tages würde den Ansturm auf die Notfallaufnahmen hoffentlich vermindern. Allerdings würde sich das Wetter am folgenden Tag wieder bessern, und ein neuerlicher Anstieg der Betrunkenenzahl sei zu erwarten.
    Nach den Nachrichten wurde eine Quiz-Show ausgestrahlt, bei der alle Teilnehmer Kirschblütenhüte trugen. Gelangweilt schaltete ich zum nächsten Programm, in dem ein Dokumentarfilm über Kirschplantagen zu sehen war. Die Kamera zoomte eine zartrosafarbene Blüte ganz nah heran und mit ihr einen krabbelnden Käfer. Widerlich. Ich schaltete den Fernseher aus. Jetzt hatte ich wirklich keine Lust mehr auf Kirschblüten.
    Da hörte ich ein kratzendes Geräusch vor meiner Tür und dachte, endlich. Ich sah, wie sich der Türknauf drehte und dann verharrte. Natürlich. Die Tür war verschlossen. Tante Norie hatte sicher den Schlüssel mitgenommen. Oder hatte sie ihn etwa vergessen?
    »Augenblick! Ich komme gleich«, rief ich so laut, wie es mein rauher Hals erlaubte. Dann erhob ich mich und bewegte mich ganz langsam zum Vorraum.
    Keine Reaktion von der anderen Seite der Tür. Nun, vielleicht konnte man wegen des Straßenlärms draußen meine Stimme nicht hören.
    Da sah ich, wie zwischen Tür und Boden etwas Weißes hindurchgeschoben wurde. Ein Umschlag.
    Furcht ergriff mich. Wer würde mir auf diesem Weg einen Brief schicken, anstatt ihn in den Briefkasten zu stecken? Wenn er zum Beispiel von Mr. Wakas Bruder, dem Vorsitzenden der Nachbarschaftsvereinigung, stammte, hätte der sicher zuerst geklingelt. Derjenige, der den Umschlag unter der Tür durchgeschoben hatte, wußte also, daß ich zu Hause war, vermied aber den direkten Kontakt zu mir.
    Ich brauchte eine Weile für meine Entscheidung, ob ich die Tür öffnen und nachsehen sollte, wer davor stand. Irgendwann holte ich dann tief Luft und nahm allen Mut zusammen. Doch draußen waren nur ein paar Schulmädchen mit ihren Fahrrädern, die auf mein Haus zukamen, nicht davon wegradelten. Ich schloß die Tür wieder und legte den Brief unter die helle Schreibtischlampe. Nachdem ich die weißen Handschuhe angezogen hatte, die ich manchmal beim Umgang mit altem Papier trage, öffnete ich den Brief

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