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Bittere Mandeln

Bittere Mandeln

Titel: Bittere Mandeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sujata
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vorsichtig mit einem Brieföffner. Ich stellte mir vor, wie Lieutenant Hata mich wegen meiner Umsicht loben würde, während ich ein Blatt dünnes weißes Reispapier mit Kirschblütenmuster aus dem Umschlag zog. Die Botschaft war dreizeilig und in hiragana verfaßt, also einigermaßen leicht zu verstehen.

    Yotte nemu
    nadeshiko sakeru
    ishi no ue.

    Ich wußte, daß nadeshiko »Gartennelke« hieß und sakeru »blühen«. In dem Gedicht ging es ums Schlafen, um Gartennelken und Felsen. Seltsam. Es war dreizeilig, vermutlich also ein Haiku.
    Ich humpelte zum Telefon und rief Mr. Waka im Family Mart an.
    »Mir ist gerade etwas Merkwürdiges passiert«, sagte er, nachdem ich mich gemeldet hatte. »Ihre Tante hat bei mir eingekauft.«
    »Nun, das beweist doch nur, was ich Ihnen gesagt habe: Sie findet Ihre Lebensmittel nicht schlecht«, erklärte ich ihm.
    »Sie hat das Datum auf den Eiern genau überprüft und gefragt, ob ich auch gekühlte habe. Gekühlte! Wer kühlt schon Eier?«
    »Wann hat sie Ihren Laden verlassen?« fragte ich.
    »Vor ungefähr zwei Stunden. Draußen ist es so kalt, da braucht man sich keine Sorgen machen, daß die Einkäufe verderben, neh?«
    Ich wollte ihm meine eigentlichen Sorgen nicht erläutern. Statt dessen erzählte ich ihm von der Nachricht, die ich erhalten hatte.
    »Ach, das ist ein Gedicht von Bashō, dem berühmtesten aller Haiku-Dichter«, sagte er, nachdem ich ihm den Text laut vorgelesen hatte. »Ich habe seine Werke in der Schule auswendig lernen müssen.«
    »Wie kann es ein Haiku sein, wenn die erste Zeile nur vier Silben hat?«
    Mr. Waka erklärte mir, daß die erste Zeile aus fünf kanji- und hiragana- Zeichen bestand. Das war mir natürlich entgangen, weil der Brief, den ich erhalten hatte, vollständig in hiragana verfaßt war.
    »Ich begreife nicht ganz, was es bedeutet«, sagte ich. »Die Verben der ersten Zeile – yotte nemu – passen irgendwie nicht zusammen.«
    »Sie wissen nicht, was yotte heißt? Yotte nemu?«
    »Ich weiß, daß nemu ›schlafen‹ bedeutet.«
    » Yotte nemu heißt, sich so betrinken, daß man einschläft wie die Betrunkenen auf den Kirschblütenfesten, die den ganzen Tag und die ganze Nacht im Yanaka-Friedhof verbringen. Wenn Sie yotte nemu praktizieren wollen, sollten Sie dorthin gehen.«
    Jetzt konnte ich die Botschaft ganz übersetzen. Allerdings würde ich mir nicht die Mühe machen, Reim und Rhythmus des Originals zu retten, denn schließlich hielt ich keinen Kurs über Lyrik. Ich kam zu folgendem Ergebnis:

    Berauscht
    Schlummernd inmitten von Gartennelken
    Ausgebreitet auf einem Felsen.

12
    Zunächst empfand ich Ärger darüber, daß jemand annahm, ich hätte während der Ikebana-Ausstellung wegen übermäßigen Alkoholgenusses das Bewußtsein verloren. Doch dann dachte ich weiter über das Haiku nach und kam zu einem erschreckenden Ergebnis. Jemand wollte mich auf einem Felsen ausgebreitet sehen, vielleicht sogar tot – inmitten von Blumen, die meinen Sarg schmückten. Ich erinnerte mich wieder an den Sarg aus meinem Traum ein paar Nächte zuvor. Offenbar wollte mein Unterbewußtes mir sagen, daß ich mich in großer Gefahr befand. Es war mein Sarg gewesen, nicht der von Tante Norie.
    Ich beendete mein Gespräch mit Mr. Waka und rief Lieutenant Hata an. Er war nicht im Büro, also hinterließ ich eine Nachricht. Dann steckte ich Brief und Umschlag in eine Plastikhülle, genau so, wie ich es in der Krimiserie Furuhata Ninzaburo im Fernsehen gesehen hatte. Die Tasche versteckte ich in der yukashita, dem kleinen Vorratsraum unter meinem Küchenboden. Ich kniete noch immer auf dem Boden und wollte gerade die Klappe wieder schließen, als Norie zurückkam.
    »Ich hätte dich nicht allein lassen sollen!« rief sie. »Hast du dir weh getan? Wo ist dein Kerosinofen? Es ist kalt hier drin.«
    »Im Schrank. Und mir geht’s gut. Meine Magenschmerzen hindern mich nur daran, aufrecht zu stehen.« Von dem ominösen Gedicht würde ich ihr später erzählen, nicht jetzt gleich, da sie sich so große Sorgen um meine Gesundheit machte.
    »Ich gebe dir noch ein paar von den Schmerztabletten, die Tsutomu für dich hiergelassen hat. Tut mir leid, daß ich dir den Futon nicht ausgerollt habe, damit du dich ein bißchen ausruhen konntest. Ich habe mich wirklich nicht genug um dich gekümmert, aber das mache ich mit einem guten Abendessen wieder wett.«
    »Was willst du denn kochen?« Sprach sie vielleicht von ihrer federleichten Gemüse-Tempura oder von

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