Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bittere Mandeln

Bittere Mandeln

Titel: Bittere Mandeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sujata
Vom Netzwerk:
später in meine Straße einbog, hörte ich die fröhlichen Stimmen von radfahrenden Kindern. Da ich Kinderräder erwartet hatte, wurde ich fast von zwei schon beinahe zwanzigjährigen Mädchen auf Mountainbikes über den Haufen gefahren. Ich hätte wissen müssen, daß Mädchen so lange wie möglich kindlich zu klingen versuchten; das galt als süß. Merkwürdig, daß Lila Braithwaites siebenjähriger Sohn auf mich wesentlich abgebrühter gewirkt hatte. Westliche Kinder wurden einfach schneller erwachsen, sogar in Japan.
    Sobald ich in meiner Wohnung war, schloß ich die Fenster, um die quäkenden Mädchenstimmen nicht mehr hören zu müssen. In der Luft hing der schwere Geruch von My-Peto-Reinigungsspray. Offenbar hatte meine Tante erst vor kurzem ihre Putzaktion beendet, aber sie war nicht da.
    Ich spulte die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter zurück, um zu hören, ob sie sich bei mir gemeldet hatte, doch beide Anrufe waren von Übersee. Der erste stammte von meinen Eltern, die wissen wollten, ob ich wieder gesund sei, und der zweite von meinem Exfreund Hugh Glendinning. Er hatte in einer Zeitung ein Foto von blühenden Kirschbäumen gesehen und an Japan und mich denken müssen. Zu wenig, zu spät, dachte ich und löschte die Nachricht.
    Ich rief Mr. Ishida an, um die Verabredung für den Abend festzumachen, und anschließend meinen Cousin Tom. Er sagte mir, er habe schon von Nolvadex gehört, würde sich aber noch in einem Nachschlagewerk kundig machen.
    Enttäuscht darüber, daß er mir keine schnelle Auskunft über die Toxizität des Mittels geben konnte, legte ich auf. Ich starrte die frisch gesaugte tatami- Matte an, die abgesehen von einem zerknüllten Stück Papier bei der Tür makellos sauber war. Vermutlich hatte ich es beim Hereinkommen verloren, denn so etwas wäre meiner Tante Norie nie entgangen.
    Als ich es aufhob, merkte ich, daß es sich um einen gefalteten Umschlag handelte. Ich öffnete ihn und sah das gleiche Kirschblütenpapier wie beim ersten Mal, wieder mit drei Zeilen Text. Und wieder war das Gedicht in hiragana geschrieben, so daß ich es lesen konnte:

    Haru kaze ni
    Osaruru bijo no
    Ikari kana!

    Die Frühlingswinde
    stoßen das hübsche Mädchen
    Ärger erregend.

    Vor meinem geistigen Auge tauchte das Bild eines Mädchens auf, dem der rauhe Frühlingswind die Haare ins Gesicht peitschte. Vielleicht wollte der Dichter sagen, daß der Wind das Mädchen ärgerte. Aber genau wie sein Vorgänger ließ sich auch dieser Haiku-Text düsterer interpretieren. Ein Mädchen, das gestoßen wurde.
    Wollte mich jemand bedrohen?
    Obwohl ich mir sicher war, daß beide Gedichte von ein und demselben Absender stammten, wollte ich dieses Haiku mit dem ersten vergleichen. Also öffnete ich den Deckel der yukashita, wo ich den anderen Brief unter einer Schachtel belgischer Pralinen versteckt hatte. Ich holte die Schachtel heraus und starrte den Boden des kleinen Lagerraums an. Der Schmutz war weg und der Brief auch.

    Verdammte putzwütige Tante! Ich steckte das neue Haiku verärgert in die Tasche meines Regenmantels – der einzige sichere Ort, der mir einfiel –, und verließ die Wohnung. Dann folgte ich der Friedhofsstraße von Yanaka, die von Kirschbäumen gesäumt wurde, zu meinem Lieblingstempel.
    Obwohl der Himmel düster war, wollte ich im Freien bleiben. Leider lagen in dem ruhigen kleinen Tempelgarten jetzt überall Kirschblüten, leere Sake-Flaschen und Sushi-Schachteln herum. Trotzdem nahm ich auf einer kleinen Bank Platz und holte die beiden Papiere heraus, die sich in meiner Manteltasche befanden. Ich las zuerst das Haiku und dann den Handzettel der Stop-Killing-Flowers-Gruppe, den Che mir vor dem Mitsutan-Kaufhaus gegeben hatte. Er war in drei Sprachen verfaßt, das Englisch gut formuliert und leicht zu verstehen. Kolumbien, der zweitgrößte Schnittblumenproduzent der Welt, beschäftigte junge Arbeiterinnen zur Pflanzung und Ernte der Blumen, die nach Übersee verschifft werden sollten. Die Blumen wurden intensiv mit Pestiziden besprüht, unter anderem mit hochtoxischem Methylbromid, Endosulfan und Parathion, Substanzen, die in der übrigen Welt fast überall verboten waren. Und schlimmer noch: Manche Blumenproduzenten besprühten die Pflanzen, während die Frauen, die zum Schutz lediglich provisorische Gesichtsmasken und Handschuhe trugen, in den Gewächshäusern arbeiteten. Die Wirkung reichte von Ohnmachtsanfällen und Hautreizungen bis zu Nerven- und Atemstörungen. Wenn die

Weitere Kostenlose Bücher