Bittere Mandeln
dann siehst du schon, wie du dich morgen fühlst.«
»Das Problem ist nur, daß ich heute abend eine Verabredung mit Mr. Ishida habe! Du weißt doch, wie sehr ich mein Geschäft in letzter Zeit vernachlässigt habe. Es ist sehr wichtig, daß ich den Termin einhalte.«
»Wieso kannst du deine geschäftlichen Termine nicht auf den Tag legen? Eine Frau, die nachts allein nach Hause geht, ist in diesen Straßen nicht sicher«, meinte Norie.
»Mr. Ishida ist Reis Lehrer. Es stimmt, sie kann ihm gegenüber nicht unhöflich sein«, sagte Onkel Hiroshi.
»Ja, das ist ganz ähnlich wie bei dir, Ojisan«, griff ich sein Argument auf. »Eigentlich würdest du gern zusammen mit Norie in Yokohama leben, aber deine Firma hat dich nach Osaka versetzt, also bist du gegangen. Du hattest keine Wahl.«
Hiroshi und Norie sahen sich einen Augenblick an, und ich hatte plötzlich das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben.
»Nun, das stimmt so nicht mehr«, erklärte Norie. »Hiroshis Firma schließt die Niederlassung in Osaka.«
»Dann arbeitest du also wieder hier in Tokio! Das ist ja toll.« Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich merkte, daß ich die einzige war, die sich darüber zu freuen schien. Onkel Hiroshi wirkte genauso unglücklich wie zuvor am Tempel, und Norie starrte in die rotbraunen Tiefen ihres Tees.
»Da wird sich ja etliches ändern«, sagte ich schließlich.
»Wir wollen dich nicht belasten, wo du doch schon genug Probleme hast«, sagte Tante Norie.
»Hör auf, du bringst Rei ganz durcheinander«, rügte Hiroshi seine Frau. Aber er berührte dabei ihre Hand, was ich als gutes Zeichen interpretierte.
»Rei gehört zur Familie. Sie muß die Wahrheit erfahren«, sagte Norie.
»Eigentlich ist es gar nicht so schlimm. Ich bin mir sicher, daß ich etwas Neues finde«, sagte Hiroshi mit forscher Stimme. So unterhielten sich die Geschäftsleute in der U-Bahn immer miteinander – kühl und leidenschaftslos.
Erst jetzt wurde mir klar, daß Hiroshis Problem offenbar etwas mit der Arbeit zu tun hatte. Vielleicht bedeutete seine Versetzung nach Tokio, daß er nun einen der schlechteren Tische am Fenster bekam. Ich sah meinen Onkel an, doch er wich meinem Blick aus.
Tante Norie ging in Richtung Bad und signalisierte mir mit einer Kopfbewegung, daß ich ihr folgen sollte. Das tat ich. Als sie die Tür geschlossen und die Wasserhähne aufgedreht hatte, sprach sie mit so leiser Stimme, daß ich mich anstrengen mußte, sie zu verstehen.
»Ojisan kann es dir gegenüber nicht direkt sagen, weil er es nicht einmal mir gegenüber ausgesprochen hat. Ich habe von seinem Vorgesetzten erfahren, daß seine Bank aufgrund der wirtschaftlichen Flaute schließen muß. Dein Onkel hat seine Stelle verloren.«
17
Ein Angestellter ohne Anstellung ist Japans uneingestandener Alptraum. Hiroshi hatte Anfang der sechziger Jahre für seine Bank zu arbeiten begonnen. Mein Vater hatte mir erzählt, daß das harte Jahre gewesen waren. Damals benutzten die Leute noch hibachi, keine Heizlüfter, um ihre Häuser zu wärmen, und die Babys hatten Windeln aus alten yukata -Morgenmänteln. Und für die Männer, die bei umstrukturierten oder neuen Unternehmen arbeiteten, hieß das Gebot der Stunde Arbeit bei Tag und Nacht. Hiroshi fing damals als junger leitender Angestellter mit einer Sechzig-Stunden-Woche an, aus der eine Achtzig-Stunden-Woche wurde, sobald er eine verantwortungsvollere Position erhielt. Drei Jahre zuvor hatte er seine Familie verlassen, weil seine Firma wollte, daß er eine neue Niederlassung in Osaka leitete. Und jetzt hatte die Bank, der er sein Leben geopfert hatte, ihn im Stich gelassen.
Es sei nichts Schändliches an der Kündigung, sagte Tante Norie. Onkel Hiroshi wurde nicht entlassen, weil er Geld veruntreut oder Untergebene sexuell belästigt hatte. Doch angesichts seines Alters – er war achtundfünfzig – würde sich vermutlich keine andere Bank finden, die ihn anstellte.
»Habt ihr wenigstens Geld gespart?« fragte ich. Wie die meisten Hausfrauen zahlte auch Norie die Rechnungen und gab ihrem Mann ein Taschengeld für die täglichen Ausgaben.
»Natürlich. Ich habe das Zusatzgehalt deines Onkels zusammen mit meinem Erbe in verschiedene Aktien investiert. Aber die asiatische Börse ist im Moment so schwach, daß unsere Aktien die Hälfte ihres Werts verloren haben. Wir dürfen nicht in Panik geraten und können nur hoffen, daß sie sich wieder erholen.« Plötzlich entdeckte ich unter den Augen der Frau, deren
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