Bittere Mandeln
Haut ich erst kürzlich bewundert hatte, Krähenfüße und dunkle Ringe. Jetzt begriff ich, warum sie und Hiroshi im Tempel gebetet hatten, bevor sie zu mir gekommen waren.
»Ojisan darf nicht aufgeben. Die Arbeitsvermittlung kann ihm sicher eine Stelle besorgen, vielleicht sogar in der gleichen Branche …«
»Ja, vielleicht kann er in einer anderen Bank die Kunden in die richtige Schlange einweisen«, sagte sie ohne jede Ironie. »Wir müssen jetzt wieder zu ihm zurückgehen und versuchen, ihn aufzumuntern. Bitte frag ihn nicht nach den Einzelheiten der Kündigung.«
Als sie sich anschickte, die Wasserhähne zuzudrehen, sagte ich: »Noch eins, bevor wir hinausgehen: Warum hast du den Brief aus der yukashita genommen?«
Norie seufzte. »Das Haiku war nicht für dich bestimmt, sondern für mich.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich solche Gedichte schon seit Jahren erhalte. Die Haikus sind alle berühmte Klassiker, so daß man sie unmöglich als Drohung interpretieren kann. Aber das, was sie aussagen!« Sie zitterte.
»Das Gedicht, das du aus der yukashita genommen hast, trifft aber auf mich zu«, beharrte ich. »Es handelt von jemandem, der mir wünscht, daß ich genug trinke, um ewig zu schlafen.«
»Es geht darin um den Tod, aber nicht um den deinen. Mach dir keine Sorgen.«
»Keine Sorgen? Ich habe Lieutenant Hata davon erzählt. Er findet, daß ich mir durchaus Sorgen machen sollte.«
Norie holte Luft. »Das hättest du nicht tun sollen. Versprich mir, daß du nicht mehr mit ihm darüber reden wirst.«
»Aber die Briefe könnten einen Hinweis auf Sakuras Mörder geben.«
»Ich bin mir sicher, daß das nicht der Fall ist. Begreifst du denn nicht, daß das schon lange Zeit so geht? Das hat nur mit mir und meinem Ruf zu tun, mit nichts sonst.«
»Warum zeigst du dem Lieutenant nicht die anderen Haikus, die man dir geschickt hat? Vielleicht erwischt er den Verantwortlichen und erspart dir dadurch in der Zukunft eine Menge Kummer.«
»Ich habe sie nicht mehr.« Norie klang fast ein wenig selbstgefällig.
»Du hast sie doch sicher irgendwo versteckt …«
»Nein, ich habe sie die Toilette hinuntergespült, genau wie das Gedicht, das du in der yukashita vor mir verstecken wolltest. Das ist die sicherste Methode der Vernichtung und die einzige, um Ruhe zu haben.«
Wasser spült alles fort. Wieder einmal fiel mir der Lieblingsspruch meiner Tante ein. Ich war so wütend, daß ich sie nicht ansehen konnte. Statt dessen starrte ich in die Badewanne, wo das Wasser in einem trägen Strudel weggesaugt wurde, genau wie einer der wenigen Hinweise auf Sakuras Mörder weggespült worden war.
»Behandelst du deine Kinder auch so, oder machst du das nur, weil ich nicht von hier bin? Weil ich trotz meines Alters noch immer nicht selbst auf mich aufpassen kann?«
»Sprich nicht so mit mir.« Tante Norie lehnte zitternd an der Tür, als wolle ich sie gleich angreifen.
»Willst du mir jetzt auch noch den Mund verbieten? Nein, das lasse ich mir nicht gefallen.« Ich packte den Türknauf, riß die Tür auf und marschierte hinaus.
Draußen griff ich mir Regenmantel, Rucksack und Schirm, ohne mich nach Onkel Hiroshi umzusehen. Meinetwegen konnten Norie und er meine Wohnung für sich haben.
Es waren immer noch vier Stunden bis zu meiner Verabredung mit Takeo und Mr. Ishida, was mir ganz gelegen kam, weil ich zu durcheinander war, um mich mit irgend jemandem treffen zu können. Am liebsten hätte ich mich an einem ruhigen Ort zusammengerollt und mir die Seele aus dem Leib geheult. Aber in Tokio einen öffentlichen Ort zu finden, an dem ich allein sein konnte, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Mir fiel nur das Kino ein, wo es so dunkel wäre, daß die Leute mich nicht sehen würden.
Im Yebisu-Garden-Cinema lief ein alter Film mit dem Titel Mabaroshi no Hikari, was so viel bedeutete wie »Phantomlicht«. Der Streifen erzählte die Geschichte einer jungen Frau, die sich abmühte, nach dem unerklärlichen Selbstmord ihres Mannes ein neues Leben aufzubauen. Der Schauplatz verlagerte sich von einem deprimierenden Viertel in Osaka in ein hübsches Fischerdorf. Am Ende gelang es der Frau, ihren Kummer abzuschütteln und sich in eine neue Gemeinschaft zu integrieren.
Als das Licht anging, nahmen die überwiegend weiblichen Zuschauer ihre Handtaschen und Regenmäntel. Ich blieb sitzen und sah mir in der Hoffnung, so meine Rückkehr ins geschäftige, laute Tokio noch ein bißchen hinauszögern zu können, auch den Abspann
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